Berlin. Der Ukraine mangelt es an vielem. Olaf Scholz fordert vom Westen mehr Unterstützung – doch bei einer Frage zögert er selbst.
Olaf Scholz hat zuletzt viel Zeit am Telefon verbracht. Der Bundeskanzler meldete sich in den europäischen Hauptstädten, um eine stärkere militärische Unterstützung für die Ukraine zu organisieren. Das Land gerät in seinem Abwehrkampf gegen Russland zunehmend in die Defensive, bei den ukrainischen Truppen werden Waffen und Munition knapp. Scholz fordert von den europäischen Staaten deshalb, ihre Hilfe für das Land aufzustocken. „Wir brauchen höhere Beiträge“, appellierte der Kanzler zuletzt ungewöhnlich deutlich an die Partner. Doch was genau benötigt das Land im Moment am dringendsten?
1. Artilleriemunition – Soldaten „müssen sich beschießen lassen“
Experten beobachten den Mangel an allen Ecken und Enden. „Den ukrainischen Truppen geht die Artilleriemunition aus“, analysiert Gustav Gressel vom Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR) im Gespräch mit unserer Redaktion. „Es fehlt aber auch Munition, die von Drohnen auf russische Ziele abgeworfen werden kann. Dafür werden in erster Linie RPG-7-Granaten verwendet, die der derzeit ausgehen.“ Auch der Militärexperte Nico Lange warnte kürzlich: „An einigen Frontabschnitten kann die Ukraine nur noch in sehr begrenztem Umfang Artilleriegefechte führen und muss sich ansonsten in ausgebauten Stellungen beschießen lassen.“
2. Luftverteidigung gegen Raketen, Drohnen und Marschflugkörper
Der FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber reist immer wieder in die Ukraine, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Er berichtet unserer Redaktion ebenfalls von Problemen der ukrainischen Truppen mit Munition für die Artillerie, aber auch für die Luftverteidigung. Russlands Präsident Wladimir Putin ließ die Ukraine rund um die Feiertage mehrfach mit mindestens 500 Raketen, Marschflugkörpern und Kampfdrohnen bombardieren. „Flugabwehrsysteme stehen an erster Stelle unter den Dingen, die uns fehlen“, warnte Präsident Wolodymyr Selenskyj zuletzt.
Auch Gressel sieht die Flugabwehr vor Herausforderungen. „Die Ukraine wird im Laufe des Jahres absehbar Schwierigkeiten bei der Luftverteidigung bekommen“, sagt der Experte. „Fliegerabwehrraketen waren seit Beginn des Krieges ein Problem, leider haben die westlichen Unterstützer der Ukraine sehr, sehr langsam darauf reagiert.“
3. Gesteigerte Rüstungsproduktion in der Ukraine und in Europa
Die Ukraine und ihre Unterstützer stehen vor einem riesigen Problem. An der Front fehlen die Granaten, die Produktion kommt nicht hinterher. Die EU hatte angekündigt, der Ukraine bis zum Frühjahr 2024 eine Million Artilleriegeschosse zu liefern. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) musste im November jedoch einräumen, dass dieses Ziel nicht zu erreichen sei.
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Die Ukraine versucht auch selbst, ihre Rüstungsproduktion zu steigern. „Wir arbeiten so hart wie möglich daran, dass unsere Verteidigungs- und Sicherheitskräfte sich in diesem Jahr bei einem erheblichen Teil ihrer Aktionen auf unsere eigene ukrainische Produktion stützen können“, kündigte Selenskyj zuletzt an. Russland auf der anderen Seite hat seine Wirtschaft radikal auf Kriegsproduktion umgestellt und produziert trotz internationaler Sanktionen derzeit etwa 100 Raketen im Monat.
„Die russische Produktion verläuft in Wellen, je nachdem, welche Teile ins Land kommen“, erläutert Experte Gressel. Hinzu kommt: Russland erhält Waffenhilfe aus Nordkorea und dem Iran. Bei den verheerenden Luftangriffen rund um den Jahreswechsel schoss Russland nach Erkenntnissen der USA Raketen mit mehreren Hundert Kilometer Reichweite ab, die Nordkoreas Diktator Kim Jong-un an Putin geliefert hatte. Vom Iran erhält Russland Drohnen, die es für den Terror aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung einsetzt.
4. Ersatzteile werden für deutsche Leopard-2-Panzer gebraucht
Ein weiteres Problem für die Ukraine ist, dass geliefertes Kriegsgerät im Gefecht verschlissen wird. Die Wartung und Instandsetzung findet jedoch nicht in Frontnähe statt, wodurch die ukrainischen Truppen lange auf das Gerät verzichten müssen. Auch Ersatzteile fehlen. „Ersatzteile braucht die Ukraine für alle gepanzerten Kampf- und Gefechtsfahrzeuge, angefangen von den Leopard-Panzern bis zu Panzerhaubitzen“, sagt Gressel. Beim modernen deutschen Kampfpanzer Leopard 2 seien es vor allem die Ketten, die stark beansprucht werden.
FDP-Verteidigungsexperte Faber fordert, „deutlich mehr moderne Panzer“ wie den Leopard 2 an die Ukraine zu liefern. Bisher hat Deutschland 18 Exemplare abgegeben. Hinter den USA ist Deutschland der größte militärische Unterstützer. Während die USA nach Berechnungen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft seit Kriegsbeginn bis Ende Oktober 2023 Militärhilfe im Wert von rund 43,9 Milliarden Euro zugesagt haben, erreicht die deutsche Unterstützung 17,1 Milliarden Euro.
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Für dieses Jahr hat die Bundesregierung acht Milliarden Euro eingeplant, und Scholz hob zuletzt mehrfach hervor, dass Deutschland in seiner Unterstützung nicht nachlassen werde. „Unser Fokus liegt dabei weiter auf Luftverteidigungssystemen, gepanzerten Unterstützungs- und Transportfahrzeugen, Kampf- und Schützenpanzern, Artilleriesystemen sowie Munition“, sagt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums unserer Redaktion.
5. Marschflugkörper mit hoher Reichweite: Taurus-Debatte hält an
In den USA sind weitere Hilfen durch innenpolitischen Streit aktuell blockiert. Wie es nach den US-Präsidentschaftswahlen im November weitergeht, steht ohnehin in den Sternen. Bundeskanzler Scholz treibt die Sorge um, dass die internationale Unterstützung für die Ukraine in diesem Jahr versiegen könnte. Die Experten vom Kiel Institut für Weltwirtschaft haben ausgerechnet: „Die neu zugesagte Hilfe hat zwischen August und Oktober 2023 einen Tiefstand erreicht – sie ist um fast 90 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2022 gesunken.“
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Nach Deutschland kommt in der Rangliste erst einmal lange nichts, Großbritannien liegt mit 6,6 Milliarden Euro auf Platz drei. Zweitgrößter bilateraler Geber aus der EU ist bereits Dänemark mit Zusagen im Wert von 3,5 Milliarden Euro. Der deutsche Beitrag werde „allein nicht ausreichen, um die Sicherheit der Ukraine dauerhaft zu gewährleisten“, mahnte Scholz. „Ich rufe deshalb die Verbündeten in der Europäischen Union dazu auf, ihre Anstrengungen zugunsten der Ukraine ebenfalls zu verstärken.“ Bis zu einem Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 1. Februar fordert Scholz eine Aufstellung, was die Mitgliedstaaten zur militärischen Unterstützung der Ukraine in diesem Jahr planen.
In einem Punkt zögert der Kanzler jedoch selbst: FDP und Grüne setzen sich dafür ein, auch die deutschen Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometern abzugeben. Scholz lehnt dies bislang ab, er befürchtet Angriffe auf russisches Gebiet. „Marschflugkörper mit hoher Reichweite sind für die Ukraine vor allem wichtig, um den Druck auf die russische Schwarzmeerflotte aufrechtzuerhalten, damit weiter ukrainisches Getreide exportiert werden kann“, erklärt Gressel. Frankreich und Großbritannien beliefern die Ukraine mit solchen Waffen, aber deren Arsenal sei auch nicht unendlich. „Insofern würde es die Lage der Ukraine verbessern, wenn Deutschland sich zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern entschließt.“
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