Moskau. In Moskau herrscht noch vorweihnachtliches Idyll, doch der Schein trügt. Unser Korrespondent schaut auf eine zerrissene Gesellschaft.
Weihnachtstrubel auf dem Roten Platz in Moskau. Hunderte Menschen schieben sich durch die Budengassen. Überall Verkaufsstände und Fahrgeschäfte. Es gibt Glühwein, sehr zucker- und zimtlastig, Lichterketten schmücken den Platz, leicht kitschig, sehr russisch eben. Die Moskauerinnen und Moskauer sind auf der Jagd nach letzten Weihnachtsgeschenken – in Russland wird das Fest erst am 7. Januar begangen. In den Geschäften ist alles ist im Überfluss vorhanden.
Doch in diesem Jahr mischt sich bei vielen Menschen Nachdenklichkeit in die Festtagsfreude. 617.000 Russen können nicht über Weihnachtsmärkte bummeln und feiern. Sie kämpfen als Soldaten in der Ukraine. Erstmals hat Russlands Präsident Wladimir Putin diese Zahl auf seiner Jahrespressekonferenz genannt. Und fast ein Viertel aller Russen hätten ihrem Präsidenten auf ebendieser Konferenz gerne die Frage gestellt: Wann ist der Krieg zu Ende? Putin hat sie nicht beantwortet.
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Die Ängste bleiben. In einer Welt, die an vielen Stellen zerfällt. Schwelende Konflikte werden zu Kriegen. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Nahost oder in Bergkarabach. Vor einer Eskalation, einem Atomkrieg gar, haben viele Menschen Angst – auch in Russland. Öffentlich sprechen sie darüber nicht, zuhause am Küchentisch oder in meinem Fitness-Club schon. „Mittlerweile wünschen sich alle in Russland gegenseitig einen friedlichen Himmel über dem Kopf. Früher gab es das nicht, jetzt ist das überall zu spüren“, hat mir vor einigen Wochen ein junger Lehrer in der russischen Provinz gesagt.
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Russland: Viele Geflüchtete kehren zurück – nicht nur aus Not
Nach Beginn der Teilmobilisierung im September 2022 sind Hunderttausende aus Russland geflohen. Nun kommen viele zurück. Manche aus Not, sie können sich das Leben im teuren Ausland nicht mehr leisten. Andere aber, auch in meinem Freundeskreis, aus Sehnsucht nach ihren Verwandten, nach geliebten Menschen und ihrer Heimat. Viele von ihnen stellen sich besorgte Fragen: Gibt es im kommenden Jahr eine neue Mobilisierung? Werden die Grenzen geschlossen? Präsident Putin hat das dementiert. Aber mit dem Zusatz: „Heute besteht dafür keine Notwendigkeit.“ Wirklich beruhigend klingt das nicht.
In wenigen Tagen ist Silvester. Gefeiert wird in Russland mit dem traditionellen Salat Olivier und vielen kulinarischen Spezialitäten. Sekt, Wein und Wodka werden in Strömen fließen. Mit meiner Frau und meinen besten Freunden werde auch ich feiern. Aber eben auch an die Geschichten denken, die ich 2023 gerne nicht geschrieben hätte – zum Beispiel über den Kremlkritiker Alexej Nawalny, zu 19 Jahren Straflager „unter verschärften Bedingungen“ verurteilt, über Wochen verschwunden war. Er wurde ins sibirische Straflager „Polarwolf“ verlegt, in eine der entlegensten Regionen Russlands. „Die Bedingungen dort sind brutal“, sagt sein Anwalt.
Oder die Geschichte über die Künstlerin Alexandra Skotschilenko, die in Supermärkten Preisschilder gegen Informationen über den Krieg ausgetauscht hat. Auch sie muss für viele Jahre ins Straflager. Für Schwule und Lesben ist ein Erlass dramatisch, der „die internationale öffentliche LGBT-Bewegung“ als „extremistisch“ einstuft. Ohne genau zu definieren, wer oder was diese „Bewegung“ ist. Sogenannte LGBT-Propaganda ist schon länger verboten. Das verbreitet Angst und Schrecken unter Menschen, die einfach nur ihre Sexualität leben wollen. Und hat Konsequenzen.
Russlands bekanntestes Pop-Duo „t.A.T.u.“ räumt Website auf
Schwulenclubs schließen. Ein Musiksender in Sankt Petersburg wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte ein Video des russischen Popstars Sergej Lasarew aus dem Jahr 2017 gespielt. In diesem Video zum Song „So schön“ sind verliebte Paare zu sehen, darunter auch zwei Händchen haltende Frauen. In der „zärtliche Berührung der Hände“ sah das Gericht verbotene „LGBT-Propaganda“. Jüngstes Beispiel: Das Pop-Duo „t.A.T.u.“, eines der erfolgreichsten russischen Musikprojekte überhaupt. Die beiden Frauen imitieren auf der Bühne eine lesbische Beziehung. Nun haben sie ihre Homepage im Netz aufgeräumt.
Was wird 2024 bringen? Im kommenden März sind Präsidentschaftswahlen in Russland. Mit Jekaterina Dunzowa gab es kurz Hoffnung auf eine echte Gegenkandidatin zu Putin. Doch die Behörden ließen ihre Kandidatur nicht zu – angeblich wegen formaler Fehler. Im Grunde können sich die Menschen entscheiden zwischen ihrem Präsidenten und Nichtwählen. Egal wie hoch Putins Sieg ausfallen wird: Wirklich interessant dürfte die Zahl der Nichtwähler sein – falls wir sie erfahren sollten.
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Sehr sicher wird der Krieg in der Ukraine auch im kommenden Jahr weitergehen. Im Moment scheint Russland überlegen. Rund 500.000 neue Vertragssoldaten hat das russische Militär rekrutiert. Dank der Deals mit Nordkorea und dem Iran hat man genügend Munition. Die russische Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren, sanktionierte Mikrochips für High-Tech-Waffen werden über Drittländer geliefert. Wirkliche Ansätze für Verhandlungen sind nicht in Sicht.
Man sei durchaus bereit mit den USA, Europa und der Ukraine über deren Zukunft zu sprechen, sagte Präsident Putin bei einem Treffen mit der russischen Militärführung. „Aber wir werden es auf Grundlage unserer nationalen Interessen tun.“ Und: „Wir werden nicht aufgeben, was unser ist.“ Gemeint sind die von Russland besetzten Gebiete im Nachbarland. Die Geschichte, die ich gerne schreiben würde, hätte den Titel: „Waffenstillstand in der Ukraine – ist Frieden in Sicht?“ Ich weiß, so bald werde ich diese Geschichte nicht schreiben können. Aber etwas Träumen zum Jahreswechsel mag auch einem Korrespondenten erlaubt sein.
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