Westjordanland. Seit dem Massaker der Hamas nimmt die Gewalt im Westjordanland zu. Palästinenser klagen über immer mehr Übergriffe durch Siedler.
Mitte November will Wael Dschafri, 47, an einem warmen und sonnigen Morgen zusammen mit seiner Ehefrau, seinem Cousin und seiner Schwiegermutter in seinen Hainen in der Nähe von Sindschil die Oliven ernten. Plötzlich, so erinnert er sich, wären schwerbewaffnete junge Männer aufgetaucht. Sie hätten die Familie bedroht, die beiden Männer geschlagen, die Bauern vertrieben und ihr Auto gestohlen. „Die Armee hat nichts unternommen, um uns zu helfen“, klagt Dschafri. Er ist noch immer empört. Die Angreifer, sagt der palästinensische Bauer, seien israelische Siedler aus dem nahen Schilo gewesen. In Sindschil haben viele Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht, auch schon früher. Doch seit dem Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober nimmt die Gewalt zu. Nicht nur in Sindschil, im gesamten Westjordanland, in dessen Herzen die Kleinstadt liegt.
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Im Rathaus von Sindschil steht der stellvertretende Bürgermeister Baha Foqa im dritten Stock und deutet auf die Hügel östlich seiner Stadt. Dort leuchten weiße Gebäude in der Dezembersonne. Es sind die fünf israelischen Siedlungen, die dort in den vergangenen Jahren errichtet worden sind. Illegal nach internationalem Recht, legal nach israelischer Lesart. Fast 150 dieser Orte gibt es mittlerweile im Westjordanland, in manchen leben Tausende Menschen. Dazu haben Siedler fast genauso viele Außenposten errichtet, die auch nach israelischem Recht illegal sind. Es sind Machtdemonstrationen, mit denen extremistische Juden ihren Anspruch auf die palästinensischen Gebiete deutlich machen.
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„Sie wollen, dass wir hier verschwinden, sie sagen, das sei biblisches Land“, sagt Foqa. In den vergangenen Jahren habe es immer wieder Probleme mit den Siedlern gegeben, auch er sei zusammengeschlagen und mit Pfefferspray attackiert worden. Immer wieder hätten Siedler auf die Wassertanks auf den Häusern am Ortsrand von Sindschil geschossen. Doch so schlimm wie in den vergangenen elf Wochen sei es noch nie gewesen. „Was uns gerade geschieht, ist unglaublich.“
„Da ist eine Gasbombe explodiert“
Ein Großteil der Gemarkung von Sindschil ist C-Gebiet. Das sind die Gebiete im Westjordanland, die Israel kontrolliert. Seit dem 7. Oktober hindert die israelische Armee die Bauern, auf ihr Land zu kommen. Die letzte Olivenernte ist in Sindschil deswegen nahezu komplett ausgefallen. Eine wirtschaftliche Katastrophe für die Stadt. Insgesamt haben sie 75.000 Liter Olivenöl weniger als üblich produzieren können, ein Verlust von umgerechnet etwa 660.000 Euro. „Ich habe einen Verlust von 11.000 Schekel gehabt, das sind für mich zwei Monatseinkommen“, klagt Wael Dschafri.
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Am Ortsrand hat die israelische Armee einen Erdwall aufgeschüttet und damit die Straße für größere Fahrzeuge gesperrt. Dahinter verläuft die Straße, die in die Siedlungen führt. „Nördlich davon können die Häuser nicht mehr bewohnt werden“, erklärt Ayad Dschafri, 43, ebenfalls Landwirt. Das Haus, in dem seine zwanzigköpfige Familie gelebt hat, liegt direkt an der Straße. Neben dem Gebäudekomplex stehen einige Olivenbäume, wenigstens die hat Ayad abernten können. Aber ihr Zuhause haben sie verlassen. Er zeigt auf eine Delle in der eisernen Eingangstür. „Da ist im Oktober eine Gasbombe explodiert.“ Ayad Dschafri sagt, die Siedler seien zunehmend aggressiver geworden. Sie machen ihm Angst, auch, weil sie jetzt so schwer bewaffnet sind.
Die Verantwortung dafür trägt Itamar Ben-Gvir, ein Rechtsextremist, der seit einem Jahr Minister für nationale Sicherheit in der israelischen Regierung ist. Nach dem Massaker der Hamas hat er die Siedler mit Tausenden Sturmgewehren ausrüsten lassen. Zugleich wird der Ausbau der Siedlungen vorangetrieben. „Seit Beginn des Krieges, der nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober begann, haben wir einen beispiellosen Anstieg der illegalen Bautätigkeit von Siedlern im gesamten Westjordanland erlebt“, schreibt die israelische Menschenrechtsorganisation „Peace Now“.
„Sie treiben ihre Herden über unsere Felder und machen alles kaputt.“
Am vergangenen Sonntag genehmigt die israelische Regierung weitere umgerechnet 18,7 Millionen Euro für die Siedlungen. Es ist, als sollten im Schatten des Krieges in Gaza Tatsachen geschaffen werden. Eine Zwei-Staaten-Lösung wird so immer unwahrscheinlicher. Ein Flickenteppich kann kein funktionierender palästinensischer Staat werden.
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In den Nachbarkommunen von Sindschil ist die Situation ähnlich. In Taybeh, einer rein christlichen Kleinstadt, klagt Bürgermeister Sulaiman Khouriyeh, die israelischen Siedler würden „immer frecher, weil sie jetzt Waffen haben“. Auch in seiner Stadt hätten sie Bauern geschlagen und beschossen. „Früher hatten wir kein Problem mit den Siedlern, jetzt überfallen sie uns permanent. Sie treiben ihre Herden über unsere Felder und machen alles kaputt.“
Ein in der Region eingesetzter Offizier der israelischen Armee sagt, im Westjordanland herrsche im Grunde schon seit zwei Jahren Krieg. Die Palästinensische Autonomiebehörde, die eigentlich für die Sicherheit in den Städten zuständig ist, sei massiv geschwächt, die palästinensische Jugend zunehmend frustriert, zudem seien mehr Waffen im Umlauf. Seit dem 7. Oktober gibt es nach Angaben der israelischen Streitkräfte „einen signifikanten Anstieg von Terrorattacken“ im Westjordanland.
Die Hamas und der Islamische Dschihad stachelten die Bevölkerung auf, heißt es in Militärkreisen. Bislang seien über 700 versuchte Attacken gezählt worden. Steinwürfe, Brandflaschenattacken, Ramm-Angriffe mit Autos, Beschuss von Fahrzeugen. Die Armee wiederum führt regelmäßig Razzien in den Hochburgen radikaler Organisationen durch, immer wieder kommt es dabei zu Toten.
Auch die von den Siedlern ausgehende Gewalt habe seit dem 7. Oktober zugenommen, sagt der Offizier. Ein Großteil der rund 465.000 Siedler im Westjordanland sei friedlich, betont Arye Shalicar, Sprecher der israelischen Streitkräfte. Unter ihnen seien aber „ein paar Tausend Extremisten, die teilweise gefährlich sind“. Es sei „nicht immer einfach“, diese Leute in Schach zu halten, räumt er ein.
„Man wird keinen Palästinenser finden, der die Hamas kritisiert“
Seit dem 7. Oktober sind nach UN-Angaben im Westjordanland 300 Palästinenser getötet worden, die allermeisten durch die israelischen Streitkräfte. Acht sollen von Siedlern umgebracht worden sein. In der gleichen Zeit töteten Palästinenser im Westjordanland vier Israelis.
Wie groß der Frust mittlerweile ist, zeigt eine kürzlich veröffentlichte Umfrage eines palästinensischen Meinungsforschungsinstituts. 82 Prozent der Palästinenser im Westjordanland haben demnach Verständnis für das Massaker der Hamas, deutlich mehr als im Gazastreifen. „Man wird keinen Palästinenser finden, der die Hamas kritisiert“, sagt ein Mitarbeiter des stellvertretenden Bürgermeisters von Sindschil. „Wir sind die Urbewohner dieses Land und werden seit 1948 gequält. Jeder hier hat großes Verständnis für das, was die Hamas getan hat.“
Vor dem Rathaus von Sindschil steht eine Mauer aus Sandstein, in sie eingraviert sind Porträts des irakischen Diktators Saddam Hussein und Jassir Arafats, dem ersten Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde. Auf der Mauer ragt eine steinerne Karte in die Höhe. Auf ihr ist ein Palästina zu sehen, in dem es kein Israel gibt und alle israelischen Städte arabische Namen tragen.