Kiew. Seit 18 Monaten erleben die Menschen in der Ukraine einen Albtraum – mit gravierenden Folgen für den Seelenzustand einer ganzen Nation.
Iwan, Besitzer eines Kaffeehauses in der Kiewer Unterstadt, ist Angang 30. Er empfindet spätestens seit Ende Mai jeden Luftalarm als Riesenstress. "Einmal gab es den Beschuss zur Tageszeit und die von der Flugabwehr abgefangenen Trümmer sind 400 Meter von uns entfernt heruntergefallen" erzählt er. "Bei vielen Häusern waren die Fenster weg. Seitdem machen mich Sirenen richtig panisch. Trotzdem schließe ich das Café nicht – sonst würden wir einiges an Geld verlieren", betont er.
Der russische Angriffskrieg ist eine große psychische Belastung für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Nicht nur für die Soldaten, auch für Zivilisten in allen Ecken des Landes – so wie Iwan. Der junge Mann leidet inzwischen seit Monaten unter Schlaflosigkeit. "In der Nacht kann ich nicht einschlafen, wenn es nur ein kleines Anzeichen dafür gibt, dass in Russland strategische Bomber unterwegs sind", erzählt er. Der Luftalarm werde in einem solchen Fall frühestens gegen zwei Uhr eingeschaltet.
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Die für die Boden-Boden-Nutzung umgebauten russischen Flugabwehrraketen vom Typ S-300 fliegen aber derart schnell, dass der Luftalarm oft gar nicht rechtzeitig eingeschaltet werden kann, um vor ihnen zu warnen. Für viele Ukrainerinnen und Ukrainer ist das inzwischen Alltag – und sie leiden deshalb unter permanentem Stress. Es ist unmöglich geworden, das eigene Leben zu planen.
Studie: Jeder zweite Ukrainer leidet an Angstzuständen
Zwar ist das Problem in frontnahen Städten wie Cherson oder Saporischschja größer als im Landesinnern, doch kein Ort ist vor den russischen Attacken sicher. Während die Hauptstadt Kiew im Mai im Schnitt jede zweite Nacht angegriffen wurde, beschossen die Russen zuletzt verstärkt die Westukraine. Die Metropole Lwiw erlebte kürzlich den schwersten Angriff mit Raketen und Drohnen seit Kriegsbeginn.
Der Verlust von Haus, Geld oder im schlimmsten Fall den Angehörigen oder die erzwungene Flucht im Raketenhagel: Das sind nur einige der gewaltigen Herausforderungen, mit denen die Bevölkerung zu kämpfen hat. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass einem Viertel der Ukrainerinnen und Ukrainer wegen des Krieges psychische Probleme drohen.
Noch pessimistischer ist das Gesundheitsministerium in Kiew: Bis zu 15 Millionen Menschen könnten bald unter psychischen Störungen leiden – mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Drei bis vier Millionen müssten schon jetzt medizinisch behandelt werden, heißt es.
Viele wollen sich erst nach Kriegsende bei Psychologen melden
Auch eine von Präsidentengattin Olena Selenska initiierte Studie zur psychologischen Gesundheit der Ukrainerinnen und Ukrainer malt nach gut 18 Monaten Krieg ein düsteres Bild vom Seelenzustand des Landes. Demnach leiden 71 Prozent der Menschen an Stress oder starker Nervosität, 50 Prozent an Angstzuständen, 42 Prozent an Anspannung, 41 Prozent an ständigen Schlafstörungen.
Psychische Probleme können eine Reihe chronischer Beschwerden – darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen – zusätzlich verschlimmern. Hinzu kommt: Nur zehn Prozent der Ukrainer mit psychischen Störungen würden sich auch bei einem Arzt melden, warnen verschiedene Organisationen. Gleichzeitig zeigt der Blick auf ukrainische soziale Netzwerke: Diese sind nicht nur mit Hassposts gegenüber Russland und Präsident Wladimir Putin voll, sondern auch mit Witzen.
Psychologen halten dies für einen Schutzmechanismus. Die Witze handeln beispielsweise davon, dass das Einschlafen besser möglich sei, wenn man die Explosionen zähle – anstatt Schafe, wie es der Volksmund empfiehlt. Wer bei Sirenen nicht sofort in den Luftschutzkeller eilt, sei aber nicht unbedingt entspannter, erklärt die Psychologin Natalija Glynjanjuk gegenüber dem Online-Medium Ukrajinska Prawda.
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Schlaflosigkeit wird für viele Ukrainer zum ernsthaften Problem
Die Menschen verstünden zwar, "dass die Alarme durch Gefahren ausgelöst werden" und dass etwas in diesen Momenten in Richtung Ukraine fliegt. "Aber für die Emotionen, die uns zu gewissen Handlungen zwingen, haben wir keine Ressourcen mehr", sagt sie. Bei vielen hat sich blanke Lethargie eingestellt.
Eine Journalistin, ebenfalls Anfang 30, lebt zwar in der Hauptstadt Kiew, ist aber in der Nähe der Front oft mit Soldaten unterwegs. "Ich fühle mich in Kiew irgendwie viel unsicherer als zum Beispiel im Bezirk Donezk, obwohl das eigentlich völliger Quatsch ist. Und wenn ich 10 oder 20 Kilometer von der Front entfernt bin, spüre ich Sicherheit, die eigentlich gar nicht da ist", berichtet sie. Sowohl Iwan als auch die Journalistin wollen sich erst nach Kriegsende bei einem Psychologen melden – wenn überhaupt.
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"Überall im Land waren die Menschen auf die Schocks nicht vorbereitet, die sie erleben. Der Umgang mit solchen Situationen wurde weder in Kindergärten noch in Schulen oder Universitäten geübt", erklärt der Psychologie-Professor Oleh Tschaban. "Wir sind eine coole Nation, die schwere Prüfungen durchmacht. Und die sind ein großer Test für die psychische Gesundheit. Als Arzt frage ich mich manchmal, wie man unter diesen Umständen überhaupt noch leben und sogar etwas planen kann."
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