Kiew. Die ukrainische Hauptstadt ist einer der Orte mit der besten Flugabwehr – auch dank deutscher Hilfe. Nun erlebt sie heftige Angriffe.
Fast 22 Monate liegt der Beginn der russischen Invasion in der Ukraine inzwischen zurück. Die Einnahme der ukrainischen Hauptstadt Kiew konnten die Verteidiger verhindern, das Leben dort hat sich normalisiert – soweit das überhaupt möglich ist. Doch russische Luftangriffe gehören in Kiew immer noch zum Alltag: Mitte Dezember hat Moskau die heftigsten Luftangriffe auf Kiew seit über einem Jahr geflogen – nicht nur mit Drohnen, sondern auch mit ballistischen Raketen.
Dabei haben herabstürzende Teile der russischen Raketen und der Flugabwehrraketen laut Behörden 53 Menschen verletzt. Die ukrainische Luftwaffe habe alle zehn Raketen sowie zehn Kampfdrohnen abfangen können. In der Ukraine wird befürchtet, dass Russland während des Winters die Frequenz und Intensität der Angriffe steigern und dabei wie im Vorjahr verstärkt die Energie-Infrastruktur ins Visier nehmen wird. Die Hauptstadt Kiew ist darauf allerdings deutlich besser vorbereitet als im vergangenen Jahr.
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Die Ukraine ist das größte vollständig in Europa liegende Land, seine Fläche ist etwa doppelt so groß wie die Deutschlands. „Daher ist es unmöglich, das ganze riesige Territorium effektiv mit Flugabwehrsystemen zu sichern“, sagt der Militärexperte Oleksij Melnyk, ein ehemaliger Kampfpilot und heutiger Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit bei der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Dafür wäre eine stark ausgebaute Luftwaffe notwendig, die den Verteidigern deutlich mehr Mobilität verschaffen würde.
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Luftangriffe auf Kiew: Eine Gefahr besteht immer
Die kommenden Lieferungen der Kampfflugzeuge F-16 aus US-amerikanischer Produktion sollen vor allem die allgemeine Qualität der Flugabwehr erhöhen und auch etwas mehr Raum bei der Verlegung der Flugabwehrsysteme in die Frontnähe geben. Anders sieht es in Kiew aus: Während die dortigen Kraftwerke zu Beginn der Angriffe im vergangenen Jahr massiv gelitten haben, erzielte Russland seit dem Frühjahr keinen einzelnen direkten Treffer in der Hauptstadt.
Das bedeutet zwar nicht, dass der Aufenthalt dort wirklich sicher ist. Denn es ist unmöglich zu berechnen, wo genau die Trümmer der abgefangenen Drohnen und Raketen zu Boden fallen, wie die jüngsten Angriffe im Dezember gezeigt haben. Auch gelingen den Russen immer wieder Treffer in der Region um Kiew herum. Trotzdem ist die Stadt binnen eines einzigen Jahres zu einer der am besten gegen Luftangriffe gesicherten Städte der Welt geworden – nicht zuletzt dank der Hilfe Deutschlands, das eine Führungsrolle bei der Lieferung von Flugabwehr an die Ukraine übernommen hat.
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Dabei war die Ausgangslage für Kiew am Anfang der russischen Invasion im Februar 2022 alles andere als vorteilhaft: Die Luftverteidigung der Hauptstadt war auf veraltete sowjetische Mittelstreckensysteme S-300 und Buk-M1 angewiesen, deren Raketenvorräte endlich waren. Die Vorräte konnten kaum aufgefüllt werden, da die Abwehrraketen für diese Systeme hauptsächlich in Russland produziert werden. Dass die ukrainische Flugabwehr ihre Vorräte schnell leer schießt und die russische Luftwaffe dadurch irgendwann sogar die angestrebte Lufthoheit erreichen kann, gehörte offensichtlich zu den Nebenzielen der Angriffe auf Energieobjekte.
Ukraine ist besser auf Luftangriffe vorbereitet als im vergangenen Jahr
Zwar sind viele der Details über die Architektur der effektiven Flugabwehr von Kiew aus Sicherheitsgründen geheim. Es gibt jedoch eine allgemeine Vorstellung, wie vielschichtig diese aktuell funktioniert. Generell geht es bei der Abwehr um drei Schlüsselbereiche: Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen, die am gefährlichsten sind.
Gegen die von Russland eingesetzten, billigen Kampfdrohnen aus iranischer Produktion wollen die Ukrainer keine teuren westlichen Flugabwehrraketen einsetzen, obwohl es vereinzelt trotzdem dazu kommt. Stattdessen kommen meist die deutschen Geparden, aber auch die sogenannten „mobilen Gruppen“ zum Einsatz: Damit sind meist ukrainische Soldaten gemeint, die auf einem Pickup mit einem installierten Maschinengewehr unterwegs sind und somit operativ auf Drohnenbewegungen reagieren können.
Bei klassischen Marschflugkörpern wie Kalibr oder Ch-101 ist vor allem Iris-T Gold wert: Die ukrainische Luftwaffe ist mit dem deutschen System, dessen Effizienz bei geeigneten Zielen nahezu bei 100 Prozent liegt, extrem zufrieden. Neben Iris-T werden für diese Zwecke die US-Systeme MIM-23 HAWK sowie norwegische NASAMS verwendet. Für ballistische Raketen, die sich bereits binnen weniger Minuten nach dem Start ihrem Ziel nähern, sind dann US-amerikanische Patriots sowie französisch-italienische SAMP/T verantwortlich.
Es leben wieder mehr als drei Millionen Menschen in Kiew
In erster Linie hat sich die jüngste Patriot-Modifikation PAC-3 bewährt. Im Voraus waren sich die Experten uneinig, ob Patriot in der Lage ist, auch russische Kinschal-Raketen, von Moskau gar als Hyperschallraketen bezeichnet, abzufangen. In der Praxis erwies sich das als kein Problem. Der guten Flugabwehr über Kiew ist es zu verdanken, dass die Zahl der Einwohner in Kiew wieder deutlich gestiegen ist. Nach dem Rückzug der Russen aus der Nordukraine Ende März 2022 befanden sich nur noch rund eine Million Menschen in der Hauptstadt, inzwischen sind es stabil mehr als drei Millionen.
Dass die Hauptstadt so gut geschützt ist, verursacht aber gelegentlich Spannungen im Land: Einige Menschen in der Provinz zeigen ihre Unzufriedenheiten damit, dass der Fokus so stark auf Kiew gelegt wird. Einen Weg aus diesem Dilemma gibt es für die ukrainische Luftwaffe aber nicht, denn tatsächlich ist Kiew neben Odessa die Großstadt im Hinterland, die am meisten von den Russen angegriffen wird.