Ankara. Die Regierung Erdogan schränkt die Meinungsfreiheit immer weiter ein. Das führte zu einem denkwürdigen Protest im türkischen Parlament.
Wer in der Türkei eine der Regierung missliebige Meinung äußert oder gegen die Regierungspolitik protestiert, riskiert immer häufiger Repressalien. Das kann bis zu einer Anklage wegen „Terrorismus“ gehen. Eine besondere Rolle bei der Strafverfolgung spielt das im Oktober 2022 verabschiedete Zensurgesetz. Damit hat sich die Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan ein weiteres Instrument geschaffen, Kritiker zum Schweigen zu bringen.
Zwischen September 2022 und September 2023 hat die türkische Justiz gegen 1640 Angeklagte wegen Meinungsdelikten verhandelt. 116 Angeklagte wurden zu insgesamt 217 Jahren Haft verurteilt. Diese Zahlen sind nachzulesen im jüngsten Jahresbericht des Vereins für Medien- und Rechtswissenschaften (MLSA). Der MLSA ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, die seit 2018 zum Thema Meinungsfreiheit in der Türkei arbeitet.
Meinungsdelikte: Fast 40 Prozent der Angeklagten sind Studenten
Der Verein publiziert regelmäßig Berichte, dokumentiert Strafverfahren und leistet Rechtshilfe für angeklagte Journalisten, Bürgerrechtler und Studenten. Der jetzt veröffentliche Jahresbericht wurde finanziell von der norwegischen Botschaft in Ankara, dem deutschen Generalskonsulat in Istanbul und dem Türkei-Büro der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit unterstützt.
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Der 55 Seiten umfassende Report trägt den Untertitel „Kein Platz für Protest“. Er dokumentiert 233 Strafverfahren. Häufige Anklagepunkte waren die Teilnahme an Demonstrationen und die Beleidigung des Staatspräsidenten oder anderer Staatsorgane. Fast 40 Prozent der 1640 Angeklagten waren Studenten. Dabei ging es meist um Teilnahme an regierungskritischen Kundgebungen. 20 Prozent der Beschuldigten waren Journalisten. Sie mussten sich vor Gericht verantworten, weil sie beispielsweise über Demonstrationen und Proteste berichtet hatten.
Zensurgesetz wird gegen Beiträge in sozialen Medien eingesetzt
Solche Berichte können schnell zu einer Anklage wegen „Terrorpropaganda“ oder gar „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ führen. Menschenrechtsaktivisten stellten ein weiteres Fünftel der Beschuldigten, Politiker 15 Prozent, Anwälte drei Prozent. Die Zahl der Angeklagten, die vor Prozessbeginn in Untersuchungshaft kamen, hat sich gegenüber dem Berichtszeitraum 2021/22 mehr als verdoppelt.
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Das im Herbst 2022 in Kraft getretene Zensurgesetz, das die „Verbreitung falscher Informationen“ mit Haftstrafen von bis zu drei Jahren bedroht, spielt bei der Verfolgung von Regierungskritikern eine immer größere Rolle. Es wird zunehmend eingesetzt, um die Verfasser missliebiger Posts in den sozialen Medien zu verfolgen. Internationale Journalistenverbände und der Europarat kritisieren das Gesetz, das von der Erdogan-Regierungspartei AKP ausgearbeitet wurde.
Aus Protest: Abgeordneter zertrümmert sein Smartphone
Bei der Parlamentsdebatte über das Gesetz gab es im Oktober 2022 eine denkwürdige Szene: Der Oppositionsabgeordnete Burak Erbay sagte in seiner Rede: „Die einzige Freiheit, die wir noch hatten, war unser Mobiltelefon.“ Erbay hielt sein Handy hoch und legte es dann aufs Rednerpult. „Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, brauchen wir es nicht mehr“, sagte der Abgeordnete, zog einen Hammer aus seiner Hosentasche und zertrümmerte sein Smartphone.
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