Berlin. In einem Punkt prallen Scholz und Erdogan im Kanzleramt heftig aufeinander. Doch zum Eklat kommt es nicht, da beide Interessen haben.
„Jeder spricht von Hamas bis morgens bis abends“, schimpft Recep Tayyip Erdogan im Kanzleramt. Gaza gebe es eigentlich gar nicht mehr. „Alles ist dem Erdboden gleich gemacht worden.“ Der Besuch des türkischen Staatschefs bei Bundeskanzler Olaf Scholz hat grundlegende Meinungsverschiedenheiten in der Bewertung des Nahostkonflikts deutlich zutage treten lassen. Der Kanzler entgegnete dem wütenden Gast: „Israel hat ein Selbstverteidigungsrecht.“
Erdogan hatte schon vor seinem Besuch am Freitag in Berlin mit Äußerungen zu Israel für Empörung gesorgt. Der türkische Staatschef warf Israel wegen dessen Vorgehen gegen die radikalislamische Hamas nach den Massakern vom 7. Oktober einen „Genozid“ an den Palästinensern vor. Er bezeichnete Israel auch als „Terrorstaat“, die Hamas hingegen sei eine „Befreiungsorganisation“. Auf Nachfrage eines deutschen Journalisten reagierte Erdogan zwar angefasst, seine umstrittenen Aussagen wiederholte der Staatschef im Beisein von Olaf Scholz nicht – und vermied somit wohl wissend einen Eklat im Kanzleramt.
Erdogan erhebt schwere Vorwürfe gegen Israel
Gleichwohl erhob Erdogan schwere Vorwürfe gegen Israel und kritisierte die Tötung von tausenden Zivilisten, die Zerstörung von Kliniken und Gotteshäusern im Gazastreifen. Er sei bereit, sich für eine Freilassung der von der Hamas verschleppten israelischen Geiseln einzusetzen, sagte Erdogan. Im selben Atemzug fügte er jedoch hinzu, dass die Zahl inhaftierter Palästinenser in Israel um ein Vielfaches höher sei. Deutschland warf Erdogan vor, aufgrund des Holocaust in einer „Schuldpsychologie“ gegenüber Israel gefangen zu sein.
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Vor seinem Treffen mit Scholz hatte Erdogan bereits Station im Schloss Bellevue gemacht, wo er von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen wurde. Auch dort scheint der Konflikt um die Bewertung des Konflikts offen zutage getreten sein. „Der Bundespräsident hat die Einstufung des Überfalls der Hamas auf Israel als Terrorangriff und der Hamas als Terrororganisation unterstrichen“, teilte das Bundespräsidialamt im Anschluss mit. „Er hat das Existenzrecht Israels sowie sein Recht auf Selbstverteidigung herausgehoben.“ Auf einem Foto sind die beiden Präsidenten in einem Raum im Schloss Bellevue zu sehen. Sie sitzen mit einigem Sicherheitsabstand an einem runden Tisch, auf dem Getränke und Blumen stehen. Beide wirken steif und angestrengt, niemand lächelt.
Scholz: Erdogan ist zu wichtig für die Totalkonfrontation
Aber Steinmeier hob aber auch Gemeinsamkeiten hervor. Auch Scholz bemühte sich unverkennbar, die gemeinsamen Interessen zu betonen. Vom Konflikt zwischen Israel und der Hamas über die Bemühungen um eine Freilassung der israelischen Geiseln bis zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine – Scholz weiß: Die Rolle Erdogans und der Türkei ist einfach zu wichtig, um die Totalkonfrontation mit dem schwierigen Partner zu suchen.
Auch in der Migrationspolitik sucht die Europäische Union den Schulterschluss mit dem türkischen Machthaber, um die Zahl der nach Europa kommenden Asylsuchenden zu verringern. Der Kanzler betonte ausdrücklich die guten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei: „Die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und der Türkei sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden.“
Der türkische Präsident sucht nicht die Nähe zu Anhängern
„Herr Präsident, dass wir zu dem aktuellen Konflikt zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen haben, ist kein Geheimnis“, sagte Scholz, der sich offensichtlich auf harte Aussagen seines Gastes zu Israel eingestellt hat. „Gerade deshalb sind unsere Gespräche wichtig.“ Scholz stellte klar: „Das Existenzrecht Israels ist für uns unumstößlich.“ Der Kanzler hob mit Blick auf das die verzweifelte Lage der Bevölkerung in der von der Hamas beherrschten Gazastreifens infolge der israelischen Gegenangriffe hervor: „Jedes Leben ist gleichviel wert. Auch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza bedrückt uns.“ An Erdogan gerichtet, fügte Scholz hinzu: „Wir teilen die Sorge vor einem Flächenbrand im Nahen Osten.“
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Erdogans Besuch in Berlin war eine Kurzvisite von einigen Stunden, auf öffentliche Auftritte vor Anhängern in Deutschland verzichtete er. Weder besucht der Staatschef das Spiel zwischen der deutschen und der türkischen Fußballnationalmannschaft am Samstagabend im Berliner Olympiastadion. Noch ließ sich Erdogan auf einer Kundgebung bejubeln. Ein Albtraum für deutsche Sicherheitsbehörden wäre etwa eine Teilnahme an einer pro-palästinensischen Kundgebung gewesen. Der türkische Präsident hat in der Vergangenheit gezeigt, dass er in Deutschland leicht große Menschenmengen mobilisieren kann.
Hinter dem Zorn ist Erdogans Interesse an Lösungen zu erkennen
Hinter seinem Zorn über getötete palästinensische Zivilisten ist zu erkennen, dass auch Erdogan nach Lösungen sucht. Er sprach sich für einen Waffenstillstand aus, damit humanitäre Hilfe geleistet werden kann. „Wie sehr kann Deutschland beitragen? Wie können wir gemeinsam diese Schritte setzen?“, fragte Erdogan. Zudem forderte der türkische Präsident ebenso wie Scholz eine Zwei-Staaten-Lösung. Mehrfach betonte er seine Rolle bei dem Abkommen zwischen Russland und der zur Ausfuhr von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer. Scholz dankte ihm, wie zuvor auch schon Steinmeier, ausdrücklich dafür.
Erdogan bringt sich bei internationalen Konflikten immer wieder als Vermittler ins Spiel. Als Nato-Mitglied mit engen Kontakten zu westlichen Staaten einerseits und als muslimisches Land andererseits nimmt die Türkei eine Sonderstellung ein. Auch im Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommt dem türkischen Präsidenten eine wichtige Rolle zu.
Auch Erdogan will etwas von Scholz und der EU
Dass Erdogan keinen Scherbenhaufen im Pressesaal des Kanzleramts hinterlässt, liegt daran, dass auch er Interesse an einer guten Beziehung zu Deutschland und der Europäischen Union hat. Die Wirtschaft seines Landes steckt in der Krise: Ausdrücklich sprach Erdogan seinen Wunsch nach einer Zollunion mit der EU und Visaerleichterungen an, damit die knapp 85 Millionen Bürgerinnen und Bürger seines Landes einfacher nach Deutschland und andere europäische Staaten reisen können. Zudem wünschte er sich die Unterstützung der Bundesregierung für einen EU-Beitritt seines Landes: „Seit 52 Jahren wartet die Türkei an der Tür der Europäischen Union.“
Erdogan forderte zudem Rüstungsexporte in sein Land: Wie vor dem Besuch bekannt wurde, drängt Erdogans Regierung auf eine Zustimmung der Bundesregierung dafür, dass die Türkei 40 Eurofighter-Jets kaufen kann. In der Pressekonferenz mit Scholz sagte Erdogan etwas beleidigt, es gebe viele Länder, die Kampfflugzeuge herstellten, nicht nur Deutschland. „Das kann man natürlich auch von anderen Ländern besorgen.“
Scholz gibt Erdogan ein Signal
Scholz äußerte sich auf Nachfrage nicht dazu, ob er den Verkauf der Kampfjets an den Nato-Partner befürwortet. In der Frage der Visaliberalisierung signalisierte Scholz jedoch deutlich seine Bereitschaft, Erdogan entgegenzukommen. „Wir sind in guten Gesprächen miteinander – trotz unterschiedlicher Meinung“, fasste Scholz die Lage zusammen. Dann verabschieden sich die beiden zum gemeinsamen Abendessen.
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