Buenos Aires. In dem südamerikanischen Land schießen Suppenküchen wie Pilze aus dem Boden. Viele haben nichts mehr – die Preise steigen weiter.
Es ist ein ungewöhnlich kühler Frühlingsvormittag in Buenos Aires. In Villa Soldati, einem ärmeren Viertel im Südwesten, weht ein schneidend kalter Wind durch die schmalen Gassen. In den weitgehend unverputzten Häusern leben vor allem Tagelöhner, Handwerker, Reinigungskräfte und Hausangestellte. Hier draußen in der Vorstadt ist die glamouröse argentinische Hauptstadt eine ganz normale lateinamerikanische Metropole. Die Kriminalität steigt, der Drogenhandel ist auf dem Vormarsch, und die Jugendlichen haben immer weniger Perspektiven.
Aber vor allem schlagen den Menschen hier die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Gemüt und Geldbeutel. Die Preise steigen seit Anfang Oktober so schnell, dass die Ladenbesitzer schon gar keine Preisschilder mehr an die Waren heften. Die Inflationsrate beträgt 140 Prozent pro Jahr. Der argentinische Peso hat in einem Monat fast 30 Prozent an Wert gegenüber dem Dollar verloren. Und seit dem überraschenden Ausgang der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 22. Oktober setzt der Peso die Talfahrt noch schneller fort. Die Aussichten, dass die seit bald 20 Jahren regierenden Peronisten an der Macht bleiben könnten, trübt die Stimmung an den Finanzmärkten noch mehr.
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Vor dem Gemeindezentrum in Villa Soldati warten alte Männer und Kinder in dicken Pullovern und Winterjacken. In ihren Stofftaschen stecken große Tupperdosen. Pünktlich um zwölf Uhr öffnet sich die bunt bemalte Schiebetür des Gemeindezentrums: „Wer ist der Erste?“, fragt Köchin Rita Trocha. Schnell reihen sich zwei Dutzend Menschen auf. Heute gibt es eine warme Suppe mit Hühnerfleisch und Spaghetti.
„Wissen manchmal nicht, wie wir es bis zum Wochenende schaffen sollen“
200 bis 300 Mahlzeiten geben sie in der „Olla comunitaria“, der Gemeinschaftsküche von Soldati, jeden Tag aus. „Jeden Tag werden es mehr Menschen, die nach Essen fragen“, sagt Trocha. Von diesen Suppenküchen, organisiert vom Staat oder sozialen Gruppen, gibt es im ganzen Land 35.000. Ohne sie wüssten viele Millionen Argentinierinnen und Argentinier nicht, wie sie satt werden sollten.
An dritter Stelle in der Schlange steht Ramona Carrera, eine 52-jährige Hausfrau, die seit drei Monaten hier Essen holt. Sie bittet um vier Rationen – für sich, ihren Mann und die beiden heranwachsenden Töchter. „Ich habe mich lange geweigert, weil es mir peinlich war, aber vor drei Monaten ging es nicht mehr.“ Carreras Mann verdient als Maurer pro Tag 9000 Pesos. Das waren im Mai noch 18 Euro. Mitte Oktober sind es gerade noch neun Euro.
Die Inflation frisst alles weg. Also gibt es morgens einen Mate-Tee mit Keksen für die Familie. „Das macht aber nicht satt.“ Mittags dann in die Suppenküche – und abends das, was noch im Kühlschrank ist. Carrera denkt nicht mehr darüber nach, wie sie es bis zum Monatsende schaffen können. „Wir wissen manchmal nicht, wie wir es bis zum Wochenende schaffen sollen.“
40 Prozent der Argentinierinnen und Argentinier sind offiziell arm
Die Menschen in Soldati und im ganzen Land sehen, wie ihnen sprichwörtlich das Geld wie Sand durch die Finger rinnt. Alles wird ständig teurer, die Miete, die Busfahrkarte, der Handyvertrag. Milch, Brot und vor allem Fleisch, so wichtig für die Argentinier, haben sich allein im August um 30 Prozent verteuert. Immer wenn der Peso gegenüber dem Dollar an Wert verliert, ziehen die Preise an.
Zwar stiegen die Löhne in den vergangenen fünf Jahren in Argentinien um mehr als 400 Prozent, doch mit fast 600 Prozent war die Teuerung schneller. In der Folge sind mittlerweile 40 Prozent der 46 Millionen Argentinierinnen und Argentinier offiziell arm. Noch vor 70 Jahren gehörte der Agrarstaat Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt – mit einem Pro-Kopf-Wachstum, so hoch wie das in Westeuropa. Analysten sagen, dass es kein anderes Land auf der Welt gebe, das sich in einem Jahrhundert von einer der reichsten Volkswirtschaften weltweit zu einem Entwicklungsland zurückentwickelt hat.
Mit den Armutsbildern aus Soldati kontrastiert der krasse Konsumrausch in den hippen Vierteln von Buenos Aires, der letztlich doch nur eine Seite der gleichen Medaille ist. Die Restaurants sind voll, die Theater und Konzerthäuser melden „ausverkauft“. Wer Geld hat, der haut es raus, anstatt es unter die Matratze zu legen. Deswegen bilden sich auch mitternachts auf der Vergnügungsmeile der Avenida Corrientes noch lange Schlangen vor den Pizzerien und dem angeblich besten Eisladen.
Sergio Massa will eine „Regierung der Nationalen Einheit“ bilden
Gefördert wird der Konsumrausch noch von Tausenden Touristen aus Brasilien, Chile und auch aus Europa, die ihre Real, Peso und Euro zum halblegalen Wechselkurs „blue“ tauschen und in Argentinien sprichwörtlich leben wie Gott in Frankreich. Und was passiert bei der Stichwahl am 19. November? Der Gewinner der ersten Runde, Sergio Massa, gibt den Staatsmann: besonnen, ein bisschen langweilig. Er will eine „Regierung der Nationalen Einheit“ bilden, in der er Mitte-Rechts-Politiker einbinden wird.
Sollte Massa in gut drei Wochen gewinnen, wird er eine solide Basis brauchen, wenn er die Bevölkerung dazu auffordert, die notwendigen Opfer zu bringen, um die Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Und der abgestürzte Favorit Javier Milei? Er erholt sich von dem Schock, doch nur Zweiter geworden zu sein und nähert sich jetzt der „politischen Kaste“ an, die er über Monate so hasserfüllt verunglimpft hat. Ohne die Stimmen der unterlegenen Kandidaten kann er nicht gewinnen.
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