Jan Jessen hat mit Palästinensern und Israelis gesprochen. Zwischen all dem Leid findet sich wenig Empathie für die andere Seite.
Etwas mehr als zwei Wochen sind nun vergangen, seit die islamistische Hamas israelische Kleinstädte und Kibbuze überfallen hat, 1400 Kinder, Frauen und Männer ermordet und mehr als 200 Menschen verschleppt hat. In Israel betrauern und beerdigen sie in diesen Tagen die Toten, manchmal sind es ganze Familien. Gleichzeitig sterben im Gazastreifen Zivilisten bei den Luftschlägen, mit denen die israelischen Streitkräfte auf die Infrastruktur der Hamas und des Islamischen Dschihad zielen. Israel darf, kann und muss sich verteidigen. Im Gazastreifen, diesem überbevölkerten kleinen Landstrich, gibt es aber nur wenige sichere Orte, die Terror-Gruppen nutzen die Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Die Region und die Welt warten gebannt auf den Beginn der Bodenoffensive, die schlimmstenfalls einen Flächenbrand auslösen könnte.
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Eineinhalb Wochen habe ich aus Israel berichtet – jetzt fliege ich wieder zurück nach Deutschland. Der Ben-Gurion-Flughafen ist in diesen Tagen weniger geschäftig, als ich es kenne. Viele Flüge sind gestrichen, wer das Land aus Angst vor dem Krieg verlassen wollte, hat das in den vergangenen Tagen getan. Als ich mit dem Taxi aus Tel Aviv herausfahre, sehe ich auf dem in der warmen Oktobersonne glitzernden Mittelmeer Kite-Surfer mit Lenkdrachen. Ich sehe Menschen am Strand spazieren und joggen und höre das nervöse Hupen der Autofahrer. In Israels säkularem Zentrum hat der Alltag wieder ein wenig Einzug gehalten, trotz der regelmäßigen Luftalarme. Solange die Bodenoffensive nicht begonnen hat, wird das wahrscheinlich so bleiben. Beginnt sie, droht dem Land ein Krieg an vielen Fronten. In Gaza, an der Grenze zum Libanon, im Westjordanland.
Die meisten Israelis, mit denen ich gesprochen habe, würden das in Kauf nehmen. Selbst Menschen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auf vielen Friedensdemonstrationen waren und sich vehement für eine Zweistaaten-Lösung eingesetzt haben, können sich nach dem Massaker des 7. Oktober der militärischen Logik – die nachhaltige Vernichtung militanter Gruppierungen im Gazastreifen – nicht mehr entziehen.
Die eigenen Toten werden beklagt, die der anderen Seite schulterzuckend hingenommen
Auf palästinensischer Seite habe ich junge Menschen getroffen, die sich nach einer neuen Intifada sehnen und die Hamas-Mörder als Kämpfer gegen die israelische Besatzung feiern. Ältere Bewohner von Städten wie Betlehem haben Angst, der Krieg könne auch auf das Westjordanland überschwappen und dort Verheerungen anrichten. Aber auch sie sehen sich nicht imstande, den Terror der Hamas zu verurteilen. Die Emphatie-Horizonte für menschliches Leid sind auf beiden Seiten scharf abgegrenzt. Mir scheint: Mehr denn je in der schier endlosen Geschichte des Nahostkonflikts. Die eigenen Toten werden beklagt und als Beweis für die unmenschliche Bösartigkeit der anderen Seite angeführt; die Toten auf der anderen Seite werden zumeist schulterzuckend als allenfalls bedauernswert hingenommen.
Der Nahost-Konflikt war vor dem 7. Oktober auf eine schier unentwirrbare Weise verknäuelt. Bei meinen Gesprächen hatte ich manchmal den Eindruck, als erhofften sich die Menschen durch den aktuellen Waffengang eine befreiende Zerschlagung dieses Knäuels. Und nun? Als ich vor meiner Abreise am Strand von Tel Aviv spazieren ging und auf das friedliche Meer hinaus blickte, dasselbe Meer, das nur wenige Kilometer weiter südlich an den Strand von Gaza schwappt, habe ich mich so ratlos und hilflos wie selten gefühlt.
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