Berlin. Eine Konfliktforscherin erklärt, warum Frauen in Kriegen trotz internationaler Ächtung immer wieder zu Opfern sexueller Gewalt werden.
Politikwissenschaftlerin Simone Wisotzki vom Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) ist Expertin auf dem Forschungsfeld der sexualisierten Kriegsgewalt. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt sie, zu welchem Zweck Kriegsparteien wie die Terrororganisation Hamas sexuelle Gewalt ausüben, welche Rolle Religion dabei spielt und warum diese Kriegsverbrechen so schwer nachzuweisen sind.
Die Hamas entführt, misshandelt und tötet Zivilisten. Zu welchem Zweck?
Simone Wisotzki: Die Zivilbevölkerung hat mit den Konflikten nichts zu tun. Die Hamas will mit Entführung, Tötung und Misshandlung die Gegner demoralisieren und zermürben. Diese terroristischen Akte erzeugen in Israel Schock und Abscheu, sie entsetzen die Menschen. Sie sollen aber auch zeigen, dass Israel seine Bevölkerung nicht schützen kann. Die Verletzbarkeit Israels soll demonstriert werden.
Augenzeugen berichten zudem von Vergewaltigungen der Frauen in den überfallenen Kibbuzim und auf dem Gelände des Supernova-Festivals. Warum die sexuelle Gewalt an Frauen?
Wisotzki: Die Überlieferungen von Massenvergewaltigung auf dem Festivalgelände sind wohlgemerkt bislang noch nicht von unabhängigen Quellen bestätigt. Mit diesen Behauptungen muss man also vorsichtig sein. Im Krieg oder terroristischen Angriffen begegnet uns das häufiger, dass wir keine verlässlichen Berichte für sexualisierte Gewalt finden. Abgesehen davon geht es bei sexualisierter Gewalt immer um die Entmenschlichung des Gegners. Der Konflikt wird auf den Körpern von Frauen ausgetragen – egal, ob junge oder alte Frauen. Danach werden sie auch zur Schau gestellt. Vom Krieg in der Ukraine wissen wir, dass Mädchen, Frauen und auch Männer von russischen Soldaten sexualisierte Kriegsgewalt erleben. Das bestätigen verlässliche Quellen, wie beispielsweise die Faktenermittler für das Human Rights Council der UN. Dort wird die sexualisierte Kriegsgewalt systematisch erhoben und festgehalten. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass in fast allen Kriegen sexualisierte Gewalt ausgeübt wird. Auch in innerstaatlichen Konflikten anderer Länder, die in Medienberichten hierzulande nicht vorkommen.
Können Sie Beispiele nennen?
Wisotzki: Ich sage immer, das sind die „vergessenen Kriege“. Beispielsweise in der Demokratischen Republik Kongo, im Südsudan, im Jemen und in anderen Konflikten in Subsahara-Afrika. Dort findet es täglich statt, dass Frauen sexualisierte Gewalt erleben. Auch der sogenannte Islamische Staat hat gegen Jesidinnen diese Art von Gewalt ausgeübt.
Also gehört sexualisierte Gewalt zur Kriegsführung dazu?
Wisotzki: Ich denke, dass es ein Teil von Kriegsstrategien ist, den man nicht ausmerzen kann. Natürlich gibt es auch Verhaltenskodizes für Soldaten und Soldatinnen, aber selbst bei der US-Armee sind Fälle dokumentiert, bei denen unter anderem US-Soldatinnen Formen von sexualisierter Gewalt an männlichen Gefangenen vorgenommen haben.
Nimmt die sexualisierte Gewalt durch die Verbreitung über Social Media zu?
Wisotzki: Das glaube ich nicht. Die Verbreitung ist in erster Linie eine Kriegsstrategie von Terroristen. Zumal es auf den sozialen Medien häufig schwer zu identifizieren ist, welche Bilder tatsächlich echt sind und was Propaganda ist. Oft sind alte Bilder von früheren oder anderen Konflikten im Umlauf, die zu Propagandazwecken genutzt werden.
Die israelische Regierung hat dazu aufgefordert, Kinder von sozialen Medien fernzuhalten und Beiträge der Hamas nicht weiterzuverbreiten.
Wisotzki: Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er oder sie damit umgehen möchte oder kann. Wichtig zu wissen ist, dass oftmals beide Seiten die sozialen Medien für ihre Zwecke nutzen. Dementsprechend kritisch und reflektiert sollte man auf das Material blicken, auf das man stößt. Diese Bilder sind besonders für Kinder und Jugendliche sehr schwer zu verdauen. Triggerwarnungen auf beispielsweise Tiktok wären ein sehr nützliches Mittel, um junge Menschen zu schützen. Als Eltern sollte man auch erklären, was gerade in Israel, aber auch im Gazastreifen passiert. Viele Erwachsene leiden ebenfalls unter den erschütternden Bildern. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass die Weltöffentlichkeit mitbekommt, was in diesem Konflikt geschieht und welches Leid über die Zivilbevölkerung gebracht wird.
Nutzen Sie selbst für die Forschung die sozialen Medien?
Wisotzki: In der Friedens- und Konfliktforschung sind die sozialen Medien zu einem sehr wichtigen Tool geworden. Durch Beiträge aus „vergessenen“ Kriegen, über die nicht viel berichtet wird, kann ich als Wissenschaftlerin Indizien sammeln, Dinge dokumentieren. Das ist bei der Rüstungsexportkontrolle sehr wichtig, weil wir Informationen erhalten, welche Waffen eingesetzt werden. Oft sind es auch moderne Technologien, so wie die Überwachungssysteme, die Irans Machthaber einsetzen, um Frauen ohne Kopftuch zu identifizieren und zu verfolgen.
Inwieweit spielen Religion und kulturelle Prägung bei sexualisierter Kriegsgewalt eine Rolle?
Wisotzki: Das ist schwer zu sagen. Religion kann ein Faktor sein. Es gibt auch religiöse Kriegsakteure, die einem aus der Religion entsprungenen ethischen Kodex folgen, in dem es ganz klar heißt: „Wir wenden keine sexualisierte Gewalt an.“ Ein Beispiel hierfür sind die „Tamilischen Befreiungstiger“ – Liberation Tigers of Tamil Eelam – in Sri Lanka. Grundsätzlich dürfte sexualisierte Gewalt in keiner Religion stattfinden. Dass es trotzdem in vielen Kriegen passiert, hängt mit der Militarisierung und Enthemmung der Menschen zusammen. Häufig wird im Krieg aber auch der Befehl erteilt, die Zivilbevölkerung mit sexueller Gewalt zu überziehen.
2002 trat das Statut des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) in Kraft, das sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit benennt.
Wisotzki: Sexualisierte Kriegsgewalt ist ein sehr breiter Verbrechenstatbestand. Darunter fallen unter anderem Vergewaltigungen, sexualisierte Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft oder auch Zwangssterilisation. Das sind alles Kriegsverbrechen, die vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden. Nun ist es aber so, dass seit 2002 bisher nur 19 Fälle von sexualisierter Kriegsgewalt zur Anklage gebracht wurden. Lediglich zwei Angeklagte wurden vor dem Internationalen Strafgerichtshof verurteilt, der Rest wurde in der Berufung freigesprochen.
Warum?
Wisotzki: Es ist unglaublich schwer, sexualisierte Kriegsgewalt nachzuweisen. Viele Opfer dieser Verbrechen bringen es auch nicht zur Anzeige, weil sie sich schämen. Zumal viele Frauen und Mädchen, die im Krieg sexualisierte Gewalt erfahren, danach ermordet werden. Der Internationale Gerichtshof ermittelt außerdem nur gegen Kommandeure und Staatsführer. Auch hier ist es schwer nachzuweisen, dass der Befehl zur sexualisierten Gewalt tatsächlich ausgesprochen worden ist. Im Fall der Hamas gibt es die Möglichkeit, dass Israel selbst den Terroristen den Prozess macht. Es muss nicht immer der Internationale Strafgerichtshof sein, der ermittelt und anklagt. Kriegsgefangene können auch nationalen Gerichten vorgeführt werden.
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