Berlin. Wirtschaftsweise Veronika Grimm hält es für zwingend notwendig, dass die Deutschen länger arbeiten. Sie schlägt dazu eine Formel vor.

  • Muss das Renteneintrittsalter drastisch erhöht werden?
  • Diese Frage wird in der Politik und Wirtschaftskreisen intensiv diskutiert
  • Top-Ökonomin Grimm bezieht Stellung

Die Zahlen haben Politik und Wirtschaft aufgeschreckt: Der Internationale Währungsfonds erwartet, dass die deutsche Wirtschaft im laufenden Jahr um 0,3 Prozent schrumpft, während die Ökonomien der anderen großen Industrienationen wachsen. Veronika Grimm gehört den Wirtschaftsweisen an, den wichtigsten Wirtschaftsberatern der Bundesregierung. Im Interview sagt sie, wie ungemütlich es jetzt für die Bürger wird.

Ist Deutschland wieder der „kranke Mann Europas“?

Veronika Grimm: Zwei Krisen haben die Wirtschaft schwer getroffen: die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Uns macht zu schaffen, dass wir besonders stark von russischen Energielieferungen abhängig waren und auch viele energieintensive Unternehmen haben, für die die hohen Strompreise eine Herausforderung bleiben werden. Gleichzeitig stecken wir mitten in der Transformation zur Klimaneutralität. Deutschland hat daher mehr zu kämpfen als andere Industrieländer und die Erholung dauert etwas länger. Es kommt jetzt darauf an, dass wir die Zeichen der Zeit sehen und die strukturellen Probleme wirklich angehen – statt immer neue Subventionen zu beschließen. Wenn wir uns weiter durchwursteln und Notpflaster verteilen, kann Deutschland tatsächlich wieder zum „kranken Mann Europas“ werden.

Welche Reformen fordern Sie, um den Standort zu stärken?

Grimm: Erstens: Bürokratie abbauen, Verwaltung verschlanken. Zweitens: Digitalisierung – insbesondere der Verwaltung – konsequent vorantreiben. Drittens: Fachkräftemangel wirklich bekämpfen.

Brauchen wir Fachkräfte vor allem aus dem Ausland?

Grimm: Die Fachkräftezuwanderung ist wichtig und muss schnell und unbürokratisch funktionieren. Unsere Ausländerämter haben nicht den Auftrag, eine Willkommenskultur zu versprühen, sondern zu überprüfen, ob jemand berechtigterweise hier ist. Das ist für Zuwanderung in den Arbeitsmarkt das falsche Mindset. Es geht aber auch darum, die Rahmenbedingungen in Deutschland zu verändern, damit die Erwerbsbeteiligung steigt: bei den Frauen wie auch bei den Älteren. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen länger arbeiten wollen und auch können, dass also das tatsächliche Rentenalter steigt. Der Trend zur Frühverrentung darf sich nicht fortsetzen.

Wollen Sie auch am gesetzlichen Rentenalter rütteln?

Grimm: Es ist fraglos notwendig, das gesetzliche Rentenalter weiter anzuheben – man sollte die Regelaltersgrenze für den Renteneintritt an die Lebenserwartung koppeln.

Den Renteneintritt an die Lebenserwartung knüofen? Veronika Grimm hält das für eine Möglichkeit.
Den Renteneintritt an die Lebenserwartung knüofen? Veronika Grimm hält das für eine Möglichkeit. © iStock | istock

Wann soll die Rente mit 70 kommen?

Grimm: Das gesetzliche Renteneintrittsalter wird bis 2031 auf 67 Jahre erhöht. Dabei kann es aber nicht bleiben. Die Formel in Zukunft könnte sein: Nimmt die Lebenserwartung um ein Jahr zu, so würden zwei Drittel des zusätzlichen Jahres der Erwerbsarbeit zugeschlagen und ein Drittel dem Ruhestand. Im Falle gesundheitlicher Beeinträchtigungen müsste es Ausnahmen geben. Aber lassen Sie mich noch einen vierten Aspekt nennen, um den Standort für Investoren attraktiver zu machen.

Nur zu.

Grimm: Die Energiepreise bleiben mit dem Wegfall der russischen Gaslieferungen und Atomausstieg mittelfristig hoch. Daher gilt es, das Energieangebot massiv auszuweiten. Wir müssen schneller werden bei den Erneuerbaren, müssen große Mengen Wasserstoff beschaffen, wir brauchen wasserstofffähige Gaskraftwerke – und mehr Leitungen für Strom und Wasserstoff. Es muss extrem viel in extrem kurzer Zeit passieren. Darauf sollte sich die Regierung konzentrieren, statt übergangsweise für einige den Strompreis zu senken.

SystemDie gesetzliche Rente funktioniert nach dem Äquvivalenz- und dem Solidarprinzip.
Renten-ArtenGrund-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrente
AusnahmenSelbstständige und Freiberufler sind in der Regel von der Versicherungspflicht befreit.
FinanzierungDie gesetzliche Rente in Deutschland ist grundsätzlich umlagenfinanziert.
ProblemeDie Unterfinanzierung resultiert hauptsächlich aus der zunehmend älter werdenden Bevölkerung in Deutschland.
Drei SäulenDie Altersvorsorge in Deutschland umfasst die gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge.
UrsprungDie gesetzliche Rente wurde am 22. Juli 1889 unter Reichskanzler Otto von Bismarck offiziell eingeführt.

Wirtschaftsminister Habeck ist sehr überzeugt von seinem Industriestrompreis.

Grimm: Ich halte das für kontraproduktiv. Wenn man den Strompreis für die energieintensive Industrie senkt, dann steigt dort die Stromnachfrage und somit über den Marktmechanismus auch der Strompreis für alle anderen, deren Preise nicht gedeckelt sind. Das betrifft den Mittelstand und viele zukunftsorientierte Unternehmen, die eine Chance für Deutschland darstellen. Außerdem senkt man den notwendigen Druck zur Transformation in eine klimaneutrale Wirtschaft.

Die Wirtschaftsweisen sind in ihrem Frühjahrsgutachten noch von Wachstum ausgegangen: 0,2 Prozent für dieses und 1,3 Prozent für nächstes Jahr. Korrigieren Sie das nach unten?

Grimm: Mittelfristig hängt die Konjunktur auch davon ab, ob sich die Regierung zu wichtigen und erstmal unangenehmen Strukturreformen durchringt. Der Industriestrompreis jedenfalls ist wenig förderlich für die mittlere Frist.

Erwarten Sie eine Rezession?

Grimm: Das Gutachten kommt erst im November. Unabhängig von unserer Prognose ist meine jetzige Einschätzung: Wir sind erst einmal in einer Stagnationsphase. Dabei würde ich nicht überbewerten, ob wir knapp über oder unter der Nulllinie liegen. Fakt ist: In einer Phase mit sehr geringem oder sogar negativem Wachstum müssen sich die Menschen auf Härten einstellen. Es kommt zu realen Einbußen. Das ist eine große Herausforderung in einer Transformationsphase, vor allen Dingen politisch.

Die deutsche Wirtschaft stagniert.
Die deutsche Wirtschaft stagniert. © picture alliance / Jochen Tack | Jochen Tack

Sind neue Handelsabkommen ein Ausweg?

Grimm: Ja, unbedingt. Wir müssen unsere Abhängigkeiten reduzieren – nicht nur von Russland, sondern auch von China. Daher brauchen wir attraktive Optionen in neuen Märkten. Das EU-Mercosur-Abkommen ist ausverhandelt und sollte unbedingt ratifiziert werden. Aber nun heißt es, das ist uns zu heikel, weil wir damit dem Klima schaden. Das ist irrwitzig! Wenn nicht die EU in engere Beziehungen mit den lateinamerikanischen Staaten eintritt, dann machen das die Chinesen. Die Chinesen werden sicher nicht stärker auf den Regenwald achten und wir geben Gestaltungspotential auf. Dass wir diese Märkte so einfach anderen überlassen, zeugt von einer Selbstgefälligkeit und Bequemlichkeit, die wir uns nicht leisten können. Es geht bergab, wenn wir so weitermachen.

Die Ampelkoalition will erst einmal das Heizungsgesetz beschließen. Halten Sie den Entwurf für geeignet, Investitionen in klimafreundliche Technologien anzukurbeln?

Grimm: Nein. Von dem ordnungsrechtlichen Ansatz war ich von Anfang an nicht begeistert, und jetzt ist es völlig verwässert. Effektiven Klimaschutz erreichen wir damit nicht mehr. Und wenn man sich die Fördermittel für den Heizungstausch anschaut, kann einem schwindelig werden: 18 Milliarden im Jahr 2024! Woher soll das Geld auf Dauer kommen? Klug wäre, die Energiewende bei Wärme und Mobilität über den CO2-Preis zu steuern. Wir sollten die CO2-Bepreisung anschärfen – und die zusätzlichen Einnahmen als Klimageld an die Menschen zurückgeben und so den sozialen Ausgleich organisieren.

Also in die Tonne mit dem Heizungsgesetz?

Grimm: Das wäre Wunschdenken. Wichtig ist mir, dass die Politik den Leuten reinen Wein einschenkt und deutlich macht: Der Umbau der Wirtschaft zur Klimaneutralität kostet etwas - auch den einzelnen Bürger.

Fehlt der Regierung dazu der Mut? Ist die Angst vor der AfD zu groß?

Grimm: Ja, und das ist leider nicht neu. Fehlender Mut hat schon die Regierungszeit von Angela Merkel geprägt. Man geht immer nur so weit, wie man es dem Wähler verkaufen kann. Das geht mit der Ampel-Regierung so weiter. Man schielt immer auf die nächste Wahl, bei der man abgestraft werden kann, und traut sich nicht, das Notwendige zu tun. Und jetzt verspricht man in einem Umfang Fördermittel, in dem sich das nicht durchhalten lässt – auf Kosten des Handlungsspielraums zukünftiger Generationen. Ich halte es für wesentlich, dass sich die Kommunikation ändert. Wir müssen Wege finden, gesellschaftliche Herausforderungen den Menschen glaubhaft zu vermitteln.

Wie würden Sie die Lage der Energieversorgung vermitteln? Müssen wir im Winter wieder bangen, dass uns das Gas ausgeht?

Grimm: Bei der Gasversorgung kann es durchaus wieder eng werden – trotz der Flüssiggasterminals, die wir gebaut haben. Es gibt ja noch Länder in Europa, die russisches Gas beziehen, und wenn die Versorgung eingestellt würde, müssen wir zu Hilfe eilen. Was für den letzten Winter galt, gilt für diesen Winter auch. Und man kann hoffen, dass es wieder glimpflich abgeht.

Sollen die Menschen also wieder die Heizung runtergehen und weniger duschen?

Grimm: Idealerweise wird die Bevölkerung ähnlich sensibilisiert wie im letzten Jahr – und heizt dann auch sparsamer. Ich hoffe, dass viele den Sommer nutzen, um Vorsorge zu treffen. Bei der Energieversorgung ist es für Entwarnung zu früh.