Kupjansk. Einst lebten hier 30.000 Menschen, jetzt 2000. Die Verbliebenen einer umkämpften Frontstadt erzählen von unbeschreiblichen Gräueltaten.

Ihor ist gestresst. Er packt hastig seine Waren zusammen, verkauft noch einen Karton mit Spraydosen an zwei Soldaten. In einer Stunde beginnt die Ausgangssperre in Kupjansk. "Das Leben hier ist wie eine Lotterie. Es kann dich jederzeit erwischen", sagt der 55-Jährige. Während er spricht, dröhnt auf der östlichen Seite vom Oskil, der die Stadt durchfließt, der Donner der Artillerie.

Die Sonne geht allmählich unter, und wenn es Nacht wird, wird der Beschuss in Kupjansk heftiger werden. Es ist, als zahle die Stadt den Preis für die ukrainische Gegenoffensive und ihre Erfolge im Süden der Ukraine.

Der 10. September hätte in Kupjansk eigentlich ein Feiertag sein sollen. Vor genau einem Jahr hatten die ukrainischen Streitkräfte die ehemals rund 30.000 Einwohner große Stadt im Nordosten der Ukraine befreit, nachdem sie länger als ein halbes Jahr besetzt gewesen war. Die Befreiung war ein schwerer Schlag für die russischen Invasoren. Kupjansk ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Die russische Logistik lief über die Stadt. Doch statt Freude herrscht in diesen Tagen Furcht in Kupjansk.

Jeden Tag gibt es heftige Gefechte

Seit Juni ziehen die Russen Truppen in der Region zusammen und erhöhen kontinuierlich den Druck. Am Frontabschnitt zwischen Kupjansk und Lyman weiter südlich kommt es täglich zu heftigen Gefechten. Soldaten der ukrainischen 68. Jägerbrigade, die hier im Einsatz ist, vermuten, dass die russischen Streitkräfte einen Keil zwischen die beiden Städte treiben wollen. Die Angriffe binden ukrainische Truppen, die bei der Gegenoffensive fehlen.

Kupjansk ist eine geschundene Stadt. Viele Gebäude tragen die Narben des ständigen Beschusses. Das Rathaus ist erst vor einem Monat schwer beschädigt worden. Das kleine Museum an der Hauptstraße hat einen Volltreffer abgekommen, nur noch die Außenwände stehen. Das Dach fehlt. "Momentan das Museum des Himmels" hat irgendwer auf die Eingangstür gepinselt. Über die Hauptstraße, auf der die Bombenkrater nur notdürftig aufgefüllt sind, rasen Militärfahrzeuge.

Soldaten fotografieren sich vor dem zerstörten Rathaus von Kupjansk.
Soldaten fotografieren sich vor dem zerstörten Rathaus von Kupjansk. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

"Bevor die Russen die Welt erobern wollen, sollten sie erst mal Toilettenpapier erfinden."

Die Reste des Lebens von Kupjansk spielen sich im Zentrum ab, dort, wo einige kleine Geschäfte noch geöffnet sind. Ihor baut hier an fünf Tagen in der Woche auf der Straße seinen Stand auf. Er verkauft kleine Ersatzteile für Autos und Krimskrams, die meisten seiner Kunden tragen Uniform. "Die Front rückt ständig vor und zurück. Manchmal hört man schon Gewehrfeuer in der Stadt", erzählt er. Vor der Invasion hat er Fahrräder verkauft. Sein Geschäft ist zerstört.

Für die früheren Besatzer hat er nur bitteren Spott übrig. Als er und seine Frau nach der Befreiung in die Stadt zurückkamen und nur Chaos und Dreck vorfanden, haben sie einen Witz gemacht: "Bevor die Russen die Welt erobern wollen, sollten sie erst einmal Toilettenpapier erfinden." Er hofft, dass die russischen Streitkräfte es nicht schaffen, Kupjansk ein zweites Mal einzunehmen. Sicher ist er aber nicht, dass es den Ukrainern gelingt, die Angriffe abzuwehren. Er glaubt, dass Verräter in der Stadt sind. "Ich bin sicher, dass jemand innerhalb der Stadt das feindliche Feuer korrigiert."

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Steckbriefe von Kollaborateuren hängen vor der Polizeiwache

Während der Besatzung haben einige Bewohner von Kupjansk mit den Russen kollaboriert. Die Steckbriefe dieser Männer und Frauen hängen in einem Schaukasten vor der provisorischen und mit Sandsäcken geschützten Polizeiwache. Auf einem der Steckbriefe ist Putin zu sehen. Das Misstrauen in der Stadt ist groß. Die meisten der wenigen verbliebenen Zivilisten wollen nicht mit Journalisten sprechen. Sie winken müde ab, manchmal wütend. Nina, 34, hat kein Problem mit Journalisten.

Sie steht an der Kasse ihres Second-Hand-Ladens, den sie mit zwei Freundinnen nach der Befreiung vor einem Jahr eröffnet hat. "Unsere Soldaten hatten damals nur dünne Sommeruniformen. Wir haben sie mit warmer Kleidung versorgt. Daraus ist die Idee unseres Ladens entstanden." Sie erzählt, wie beängstigend der Beschuss ist. "Besonders auf der ander en Seite des Flusses gibt es viele Opfer. Einige meiner Verwandten sind verletzt worden."

"Das wäre für uns die Hölle."

Natürlich, sagt Nina, gebe es die Furcht vor einer erneuten Besatzung. "Das wäre für uns die Hölle." Aber sie sei zu neunzig Prozent sicher, dass die ukrainischen Verteidiger standhalten werden. "Die Russen haben keine Stärke, keine Kraft, keinen Kampfgeist." Wie viele der früheren Einwohner noch in Kupjansk sind, kann Nina nicht genau beziffern. Offiziell heißt es, es seien noch etwa 2000. "Ich glaube, es sind mehr. Die meisten sitzen nur zu Hause und beten, dass ihnen nichts geschieht."

Sie will trotz der Lebensgefahr bleiben. "Unsere Jungs kämpfen an der Front für uns. Für sie ist es wichtig, dass sie hier Essen und Kleidung kaufen können. Sie brauchen Stabilität."

Second-Hand-Laden-Besitzerin Nina (weißes Shirt) mit ihrem Sohn Oleksiy und den Kolleginnen Katya und Ira.
Second-Hand-Laden-Besitzerin Nina (weißes Shirt) mit ihrem Sohn Oleksiy und den Kolleginnen Katya und Ira. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Mitte vergangenen Monats hat die ukrainische Regierung die Zivilisten in der Stadt und in den umliegenden Siedlungen aufgefordert zu fliehen. Seitdem hat Maryna Tkachenko viel zu tun. Die 51-Jährige bekommt immer wieder Anrufe von Menschen, die sie fragen, ob sie irgendwer herausholen kann. Tkachenko stammt aus Prystin, einem kleinen Dorf südlich von Kupjansk. Wenn sie spricht, öffnet sie ihren Mund kaum. Während der russischen Besatzung hatte sie Zahnschmerzen. Weil sie sich nicht aus dem Haus herauswagte, zog sie sich die schmerzenden Zähne selbst mit einer Zange.

Während der Kämpfe im vergangenen Spätsommer floh Tkachenko mit ihrer heute elfjährigen Tochter zu Fuß aus Prystin. In den Dörfern sahen sie Leichen und sie sahen die Hunde, die die Leichen fraßen. Tkachenko schüttelt den Kopf, als wolle sie die Erinnerungen verdrängen. "Wenn ich Ihnen erzähle, was wir alles gesehen haben, können Sie nicht mehr schlafen." Jetzt leben die beiden bei einer Freundin in einem Dorf südwestlich der Großstadt Charkiw, etwa einhundert Kilometer entfernt von Kupjansk. Tkachenko hat es sich zur Aufgabe gemacht, denen zu helfen, die noch zu Hause sind.

Seit Juni hat Tkachenko über 50 Familien in Sicherheit gebracht

Vor dem russischen Überfall war sie eine bekannte Umweltaktivistin. Ihre Telefonnummer kursiert in der Region Kupjansk. "Manche, die mich anrufen, wollen wissen, wie sie aus der Region herauskommen." Diese Menschen vermittelt sie an eine ukrainische Hilfsorganisation, die Evakuierungsmissionen durchführt. Seit Juni hat sie über 50 Familien in Sicherheit bringen können. "Wir wollen jetzt so viele Leute wie möglich retten. Es muss schnell gehen. Für die Helfer wird es immer gefährlicher, wenn sie Menschen unter dem zunehmenden Beschuss herausbringen müssen."

Andere wollen einfach nur reden. "Manchmal sagen sie mir, dass sie nicht gehen wollen, weil sie Haustiere haben oder weil sie ihre Häuser und Gärten nicht verlassen wollen." Sie versucht, diese Menschen dann zum Gehen zu überreden. "Ich frage sie, was sie machen wollen, wenn sie verletzt werden, zum Beispiel ein Bein verlieren, aber es keine medizinische Versorgung für sie gibt. Oder was aus ihnen wird, wenn die einzige Ponton-Brücke über den Fluss zerstört wird."

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Die schlimmsten Gespräche für sie, sagt Tkachenko, seien die mit den Menschen, die die Hoffnung verloren hätten. "Es gibt welche, die sagen, ich bin jetzt bald siebzig, ich bin zu alt zu fliehen. Sie sagen, ich weiß, dass ich sterben werde, aber ich möchte noch mit jemandem sprechen, bevor ich sterbe." Die ukrainischen Militärs erwarten in nächster Zeit eine größere russische Offensive in der Region. "Die Russen haben vielleicht eine Chance, Kupjansk zurückzuerobern", befürchtet Tkachenko. "Je weiter wir im Süden vorrücken, desto größer wird hier der Druck."