Berlin. Die Chancen der Ukrainer für einen Durchbruch stehen nach Einschätzung Masalas bei 40 bis 50 Prozent. Es kommt auf mehrere Faktoren an.
Er zählt zu den bekanntesten Militärexperten in Deutschland: Carlo Masala. Der 55-Jährige lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Ukraine-Krieg. Wir telefonierten mit Masala am Ende seines viertägigen Aufenthalts in Kiew.
Sie waren vier Tage in Kiew. Welche Eindrücke nehmen Sie mit nach Deutschland?
Carlo Masala: „Ich nehme mit, dass die Gesellschaft trotz aller Problematik, die der Krieg mit sich bringt, unglaublich resilient ist. Viele Menschen haben den starken Willen, den Kampf gegen die Invasoren weiterzuführen. Dennoch gibt man sich keinen Illusionen hin und ist sich der Schwierigkeit der Lage bewusst.“
Gibt es eine Szene, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Masala: „Ich habe mit Kriegsversehrten gesprochen. Das sind schwer traumatisierte Menschen, die trotzdem von der Richtigkeit ihres persönlichen Kriegseinsatzes überzeugt sind.“
Der Chef der Analyseabteilung des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency sagt, die Ukraine habe eine 40- bis 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, die verbleibenden russischen Verteidigungslinien bis Ende des Jahres zu durchbrechen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Masala: „Ja, das ist realistisch. Das hängt aber von mehreren Faktoren ab: Wie reagieren die Russen? Haben sie noch genug Reserven? Werden die Ukrainer die relativ kluge Operationsführung beim Durchbruch durch die ersten beiden Verteidigungslinien fortsetzen? Und: Können sie ihre Verluste minimieren? Entscheidend ist, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Lage sind, die russischen Verbände in Bewegung zu halten. Wenn ihnen das nicht gelingt, haben die Russen die Möglichkeit, sich wieder einzugraben. Die Ukrainer brauchen vor allem Nachschub an Munition, Ersatzteilen und Artilleriesystemen.“
Der Technologie-Milliardär Elon Musk hat im vergangenen Jahr einen ukrainischen Angriff auf den russischen Marinestützpunkt Sewastopol auf der Krim verhindert: Er verweigerte eine Aktivierung seines Satelliteninternetdienstes Starlink. Hätte die Ukraine mit Starlink den Krieg schon gewonnen?
Masala: „Nein, gewonnen hätten sie damit noch nicht. Aber es war ja die Absicht der Ukrainer, alle russischen Kriegsschiffe, die in Sewastopol vor Anker lagen, zu beschießen und zu versenken. Das hätte dazu beigetragen, dass von der Schwarzmeerflotte weniger Raketen auf ukrainisches Territorium hätten abgefeuert werden können. Mit dem Versenken der russischen Schwarzmeerflotte hätte man eine weitere Voraussetzung für die Isolierung und die Eroberung der Krim schaffen können.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dem Westen vorgeworfen, er liefere zu langsam Waffen und gefährde damit die Gegenoffensive. Hat er Recht?
Masala: „Dahinter würde ich ein Fragezeichen setzen. Bestimmte Waffen kann die Ukraine nicht ausreichend aus dem Westen bekommen, weil sie nicht vorhanden sind. Beispiel: Die Ukraine hätte gern 500 bis 600 Kampfpanzer. Die kann der Westen in modernen Systemen nicht liefern, weil er sie nicht zur Verfügung hat. Das gilt zum Beispiel für die Leopard-Panzer vom Typ 2A4 der Bundeswehr. Bei der Verschickung von Munition hat Selenskyj Recht. Der Westen fängt erst jetzt an, die Munitionsproduktion richtig hochzufahren. Das ist viel zu spät erfolgt. Und das trifft auch auf die Luftverteidigung im Nahbereich zu. Eines der großen Probleme der ukrainischen Gegenoffensive bestand in der punktuellen Luftüberlegenheit der Russen mit Blick auf die eigenen mechanisierten Verbände.“
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Genau das beklagt Selenskyj. Würde die schnellere Lieferung von westlichen F16-Kampfjets der Ukraine entscheidend helfen?
Masala: „Nein. Aber westliche Kampfjets könnten dazu beitragen, dass die Verluste der Ukrainer minimiert werden. Darüber hinaus könnten die Ukrainer dann noch stärker mit mechanisierten Verbänden vorgehen, weil diese aus der Luft geschützt werden könnten.“
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Die UN wollen Moskau zu einer Rückkehr zum Getreideabkommen bewegen, indem sie die westlichen Sanktionen lockern: So soll Russland der Export von Düngemitteln und Landwirtschaftsprodukten ermöglicht werden. Halten Sie das für richtig?
Masala: „Nein. Das wäre ein katastrophaler Fehler. Damit würde sich Russland mit einer seiner zentralen Forderungen durchsetzen. Das käme einem Dammbruch gleich mit Blick auf die Bemühungen, afrikanische Staaten davon zu überzeugen, dass Russland der Aggressor ist. Die Hungersnot in diesen Ländern wird nur durch Moskau verursacht. Ginge der UN-Vorschlag durch, stünde Russland als Retter da.“
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