Ukraine. Putin hält in den besetzten Regionen der Ukraine Scheinwahlen ab – unter kuriosen Umständen. Schon die Kandidaten werfen Fragen auf.
Erst Scheinrefenden, nun Scheinwahlen: Ein Jahr, nachdem in den teils besetzten ukrainischen Regierungsbezirken Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja über den Beitritt zu Russland abgestimmt wurde, lässt der russische Präsident Wladimir Putin dort nun Lokalparlamente wählen. Sie sollen später über die Gouverneure der Regionen abstimmen – was bedeutet, dass sie die Chefs der lokalen Besatzungsverwaltungen lediglich in ihren Ämtern bestätigen.
Je nach Region rechnet das staatliche Meinungsforschungsinstitut Wziom mit Zustimmungswerten zwischen 80 und 89 Prozent für die Putin-Partei Einiges Russland. Zahlen, von denen die Partei trotz des gleichgeschalteten politischen Systems in den allermeisten russischen Regionen nur träumen kann.
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Die Scheinwahlen in der Ukraine reihen sich ein in die Absurditäten des Referendums von 2022, das binnen weniger Tage organisiert worden war. Laut russischen Angaben stimmten damals 99,23 Prozent der Wähler in der Volksrepublik Donezk für den Beitritt zu Russland. Doch schon damals kontrollierte Moskau keinen der beanspruchten Bezirke vollständig, inzwischen ist das besetzte Territorium sogar weiter geschrumpft. Vergangenen November mussten die Russen die Stadt Cherson aufgeben – und im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive gab es weitere Rückeroberungen in den Regionen Donezk und Saporischschja.
Putin ändert Gesetzgebung – Wahlen trotz verhängtem Kriegsrecht
Die Fakten hinderten den Kreml allerdings nicht daran, die ostukrainische Großstadt Saporischschja für russisch zu erklären – und das, obwohl sie nie unter Kontrolle russischer Truppen stand und dort noch nicht einmal eine Scheinabstimmung stattgefunden hat.
Weil Putin in den besetzten Regionen und auf der annektierten Krim das Kriegsrecht verhängt hat, dürften dort laut der ursprünglichen Gesetzgebung eigentlich gar keine Wahlen stattfinden – auch nicht die landesweiten russischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2024, bei denen sich der Kremlchef erneut ins Amt wählen lassen will. Doch auf Putins Wunsch wurden die Gesetze im Eiltempo so umgeschrieben, dass selbst die Scheinwahlen in dem besetzten Gebiet auf dem Papier regelkonform sind.
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Jährlich werden reguläre Kommunalwahlen in russischen Regionen an einem einheitlichen Wahltag im September ausgetragen. Doch die Abstimmung, die ausschließlich über Parteilisten laufen soll, wird dieses Mal deutlich länger dauern als nur einen Tag – den 10. September. In den frontnahen Kreisen der beiden Bezirke Donezk und Saporischschja zieht sich die Stimmabgabe bereits seit dem 31. August hin. In anderen Gebieten wird die Abstimmung erst ab dem 8. September möglich sein.
Scheinwahlen mit zahlreichen Kuriositäten in Parteilisten
Technisch dürften die Wahlen ähnlich ablaufen wie das Scheinreferendum im vergangenen Jahr. Einige wenige Wahllokale werden geöffnet, um Fernsehmaterial für die russische Propaganda zu generieren. Doch in der Hauptsache dürften Mitarbeiter der Wahlkommissionen bei den Bewohnern an den Haustüren klingeln und um die Stimmabgabe „bitten“.
Das unabhängige russische Exil-Medium „Waschnyje Istoriji“ und das Conflict Intelligence Team haben Ende August die Kandidatenlisten der Parteien ausgewertet. Ursprünglich hatten die Listen „aus Sicherheitsgründen“ gar nicht veröffentlicht werden sollen – denn sie haben es in sich. Ein Drittel aller aufgestellten Kandidaten in den Bezirken Cherson und Saporischschja sind Hausfrauen, Studenten, Rentner und Arbeitslose mit unklarer Einkommensquelle.
Während die Putin-Partei Einiges Russland überwiegend Mitarbeiter aus den Besatzungsstrukturen aufstellt, setzen andere in der Staatsduma vertretene Parteien – etwa die Kommunisten oder die Partei Gerechtes Russland – zur Hälfte auf Rentner und Hausfrauen. Sie sollen zumindest den Anschein einer demokratischen Wahl aufrechterhalten. In den Regionalparlamenten werden letztlich aber fast ausschließlich Abgeordnete aus Putins Partei sitzen.
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Bei genauerem Blick auf die Parteilisten finden sich noch zahlreiche weitere Kuriositäten: So stellen die Kommunisten und Gerechtes Russland in der Region Saporischschja denselben Kandidaten auf – einen Urologen aus der Stadt Enerhodar. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU bewertet indes alle ukrainischen Kandidaten – ob Urologe oder Hausfrau – als Kollaborateure und Staatsverräter. Auch die Europäische Union hat die Austragung der Scheinwahlen in der Ukraine bereits verurteilt.
Einen völlig anderen Fokus setzte hingegen der republikanische US-Senator Lindsey Graham bei seinem jüngsten Besuch in Kiew. Graham drängte darauf, 2024 auch im Rest der Ukraine trotz des herrschenden Kriegsrechts Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dessen Vertrauenswerte aktuell bei über 80 Prozent liegen, wäre das die Chance, sich problemlos für weitere fünf Jahre wiederwählen zu lassen. Doch Wahlen würden eine ganze Reihe von Fragen aufwerfen.
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Wo und wie sollen die Millionen von Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen wählen? Wer trägt die hohen Kosten, die im Verteidigungsbereich aktuell notwendiger sind? Und wie soll die Stimmabgabe für Soldaten an der Front gewährleistet werden? Problematisch wäre auch, dass ein Wahlkampf mitten im Abwehrkrieg gegen Russland nicht zwingend zur Einigkeit des Landes beiträgt – und das kann Selenskyj kaum wollen.
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