Berlin. Immer mehr Strafverfahren – und weniger Anklagen. In den Justizbehörden fehlt Personal. Neue Zahlen verraten, wie ernst die Lage ist.

Es ist erst ein paar Wochen her, da schlagen Polizei und Staatsanwaltschaft wieder zu. Tatort diesmal: Berlin. Die Beamten durchsuchen fünf Wohnungen, Geschäftsräume und Bankschließfächer. Im Visier: ein 35 Jahre alter mutmaßlicher Drogenhändler. Die Polizei beschlagnahmt nach eigenen Angaben rund 500.000 Euro, und sechs scharfe Schusswaffen mit 1000 Schuss Munition.

Wie so oft waren es abgehörte Nachrichten aus den sogenannten „Encrochat“-Handys, die zum Täter führten. Französische Kriminalisten hatten sie vor einigen Jahren entschlüsselt. Die Handys galten bis dahin in der Szene der organisierten Kriminellen als abhörsicher. Doch seit dem staatlichen Hackerangriff liegen den deutschen Ermittlern Zehntausende Chats und Fotos von mutmaßlichen Verbrechern aus Handydaten vor. Erstmals sind tiefe und gerichtsfeste Einblicke in die Hierarchie der organisierten Kriminalität möglich.

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„Goldgräberstimmung“, sagt ein Beamter dazu. Einerseits. Andererseits klagen Polizei, Justiz und Gerichte über einen Ermittlungsapparat am Limit. Immer neue Verfahren, immer mehr Handydaten, immer wieder aufwendige Spurensuche etwa in abgeschotteten Drogenkartellen. Zugleich sehen sich Justiz und Polizei mit wachsenden Aufgaben konfrontiert. Und einer Politik, die immer wieder nach schärferen Gesetzen ruft.

2022 bundesweit mehr als 5,2 Millionen neue Fälle

Nur ein Beispiel: 2021 verschärfte die Bundesregierung das Gesetz zu Kindesmissbrauch. Was gut gemeint war, hat aus Sicht vieler Fachleute fatale Folgen. Auch gegen offensichtlich harmlose oder gar unschuldige Personen müssen die Strafverfolgungsbehörden nun mit hohem Aufwand ermitteln – das bindet Personal und Zeit, die für die gravierenden Fälle dringend benötigt wird.

Die Akten in den Staatsanwaltschaften stapeln sich. Die Ermittlungen sind oft komplex, die Datenmengen enorm.
Die Akten in den Staatsanwaltschaften stapeln sich. Die Ermittlungen sind oft komplex, die Datenmengen enorm. © dpa | David Young

Zahlen des Deutschen Richterbundes (DRB) bestätigen nun die wachsende Last in der Justiz. Die Zahl der Strafverfahren bei den Staatsanwaltschaften ist demnach auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Zugleich ist die Anzahl der erhobenen Anklagen der Staatsanwaltschaften vor deutschen Gerichten auf einen neuen Tiefstand gesunken. Das geht aus einer Auswertung durch die Deutsche Richterzeitung hervor, deren Ergebnisse unserer Redaktion vorliegen.

Demnach haben die Strafverfolgungsbehörden 2022 bundesweit mehr als 5,2 Millionen neue Fälle bearbeitet. Das entspricht einem Anstieg von fast 308.000 Verfahren im Vergleich zu 2021. Doch: Nur noch jedes 15. Strafverfahren landet mit einer Anklageerhebung vor einem Gericht, insgesamt 340.243 Fälle im Jahr 2022. Zehn Jahre zuvor war dies noch bei jedem zehnten Strafverfahren der Fall, damals insgesamt 485.525 Anklageerhebungen.

Richterbund warnt: Strafjustiz ist personell ausgelaugt

Der Richterbund warnt: „Die Justizstatistiken zeigen sehr deutlich, dass eine personell ausgelaugte Strafjustiz mit ihren wachsenden Aufgaben kaum noch Schritt halten kann“, sagte Sven Rebehn, der Bundesgeschäftsführer des DRB, in dem auch Staatsanwältinnen und Staatsanwälte organisiert sind. Laut DRB fehlen bundesweit 1500 Juristen in den Staatsanwaltschaften und Strafgerichten.

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Eine Folge der Überlastung bei der Justiz: Immer öfter werden dringend Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen, weil die Verfahren zu lange dauern. Kein Beschuldigter darf unbegrenzt lange in Haft gehalten werden, ohne dass er angeklagt wird. 2022 haben Strafgerichte demnach in mindestens 73 Fällen Haftbefehle aus diesem Grund aufgehoben. 2021 waren es laut den Justizbehörden der Länder noch 66 Fälle, 2020 waren es 40. „In den zurückliegenden fünf Jahren sind damit mehr als 300 Tatverdächtige wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden“, teilt der Richterbund mit.

Zehntausende Handydaten von mutmaßlichen Kriminellen bekommen die deutschen Ermittler aus den gehackten Encrochat-Handys.
Zehntausende Handydaten von mutmaßlichen Kriminellen bekommen die deutschen Ermittler aus den gehackten Encrochat-Handys. © dpa | Arne Dedert

Erstinstanzliche Strafverfahren vor den Landgerichten dauern im Durchschnitt 8,6 Monate, auch hier ein neuer Höchstwert. Bei den Amtsgerichten habe sich die durchschnittliche Verfahrensdauer bis zu einem Strafurteil auf fast sechs Monate verlängert. Der Richterbund wiederholt deshalb seine Forderung nach mehr Personal. „Es ist dringend geboten, dass Bund und Länder die immer neuen Aufgaben in der Strafverfolgung angemessen mit Personal unterlegen“, sagte DRB-Geschäftsführer Rebehn.

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Die Fallzahlen bei den Staatsanwaltschaften würden steigen, die Strafverfahren immer aufwendiger werden, „etwa weil die auszuwertenden Datenspuren durch die Digitalisierung rasant wachsen“, sagte Rebehn unserer Redaktion. „Die Politik verschärft die angespannte Lage noch mit einem Gesetzgebungsstakkato, das die Regelungsdichte und Detailtiefe des Strafrechts seit Jahren steigert.“ Damit meint Rebehn auch die verschärften Gesetze im Kampf gegen Kindesmissbrauch.

Bund gibt jedes Jahr 50 Millionen Euro für Digitalisierung

Die Debatte über eine Justiz am Limit läuft seit Jahren. Und die Länder waren nicht tatenlos. Das Ministerium in Nordrhein-Westfalen hat nach eigenen Angaben seit Beginn des Jahres 80 von 200 fehlenden Stellen neu besetzt. Und dennoch: Ende März gab es noch 226.000 unerledigte Ermittlungsverfahren bei den örtlichen Staatsanwaltschaften. In Bayern bewilligte der Landtag im Frühjahr 150 neue Jobs, Hessen kündigte Stellen im „deutlich zweistelligen Bereich“ an.

Und so geht es durch die ganze Republik: Staatsanwälte und Richterinnen und Richter fehlen. Die Landesregierungen schnüren Personalpakete – und können doch nicht alle Stellen besetzen. Die Länder rufen immer wieder nach Hilfe aus dem Bund. Ein „Pakt für den Rechtsstaat“ schnürten Bund und Länder schon 2021: mehr als 200 Millionen Euro Beihilfe vom Bund für 2000 Stellen in der Justiz. Doch gestritten wird nun über eine weitere Finanzierungshilfe vom Bund. Und die Länder berufen sich auf den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP, in dem es heißt, dass der Pakt „verstetigt“ werde.

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Bisher hatte Justizminister Marco Buschmann (FDP) den Ländern 50 Millionen Euro pro Jahr zugesagt, bis einschließlich 2026. Geld, das allerdings für Projekte der Digitalisierung bestimmt ist, und nicht für Personal. Eine digitalere Justiz soll am Ende dennoch die Staatsanwälte und Richter entlasten. Und ohnehin gilt: Stellen in der Justiz darf der Bund aufgrund des Föderalismus nicht dauerhaft finanzieren, das bleibt im Kern Ländersache. Ein Dilemma und ein Streit der Politik – die Profiteure könnten am Ende vor allem die organisierten Kriminellen sein.