Berlin. Ein Nato-Insider legt der Ukraine nahe, Gebiete abzutreten – und der Nato beizutreten. Der Krieg würde wie in Korea enden: mit Teilung.

Viele Militärexperten sind überzeugt, dass der Ukraine-Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern am Verhandlungstisch entschieden wird. Aber zu welchen Bedingungen? Um welchen Preis?

Für Stian Jenssen wäre es ein denkbarer Weg, dass die Ukraine Gebiete an Russland abtritt und im Gegenzug der Nato beitritt. Im Klartext: eine Teilung gegen eine Sicherheits- und Beistandsgarantie.

Stian wer? Der breiten Öffentlichkeit dürfte der Name Stian Jenssen unbekannt sein, der Ukraine nicht. Er ist der Stabschef von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Seine Gedankenspiele veröffentlichte er gerade in der norwegischen Zeitung "Verdens Gang".

Ukraine-Krieg: Ruf nach Friedensgesprächen wird lauter

Er dürfte seinen Chef und Landsmann eingeweiht und seine Überlegungen mit Bedacht gerade jetzt platziert haben. Denn: Am 24. August ist es eineinhalb Jahre her, dass der Überfall auf die Ukraine begonnen hat. Weltweit wird der Ruf nach Friedensgesprächen lauter. Selbst US-Außenminister Antony Blinken hat Verhandlungen über den künftigen Grenzverlauf der Ukraine nicht ausgeschlossen.

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Wenn Jenssens Äußerungen als Testballon gedacht waren, so haben sie ihren Zweck erfüllt. In Kiew hat das Außenministerium den Vorstoß umgehend als "absolut inakzeptabel" zurückgewiesen.

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Jenssen selbst betont, dass die Ukraine bestimmen soll, wann der Zeitpunkt gekommen ist, um mit Russland über einen möglichen Frieden zu verhandeln. "Ich sage nicht, dass es so sein muss", bemerkte er zu den Gebietsverlusten. "Aber es könnte eine mögliche Lösung sein."

Legt es Putin darauf an, den Krieg einzufrieren

Kriege enden auf zwei Arten: Wenn die eine Seite die andere besiegt und ihr einen Frieden diktieren kann – oder wenn beide lieber einen Kompromiss schließen, als einen Krieg fortzuführen, den keine von ihnen gewinnen kann.

Ob eine oder gar beide Seiten dieses Bewusstseinsstadium schon erreicht haben? Eher nicht:

  • Vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj liegt eine Friedensformel vor. Sie sieht den Abzug russischer Truppen aus der gesamten Ukraine und ein Tribunal gegen russische Kriegsverbrecher sowie Sicherheitsgarantien vor.
  • Kremlchef Wladimir Putin begann diesen Krieg, weil er seine Einflusszone erweitern und einen Regimewechsel in Kiew erzwingen wollte. Zuletzt hat er die Militärausgaben wie die Zahl der Soldaten erhöht und die Rekrutierung erleichtert. Er richtet sich auf eine lange Auseinandersetzung ein.
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Die Ukraine vertritt auf der "Friedenskonferenz" in Saudi-Arabien eine einfache Formel. Der Kernpunkt von Präsident Wolodymyr Selenskyj: Erst ein Abzug der Russen, dann Verhandlungen. © Efrem Lukatsky/AP/dpa

Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte der "New York Times", die militärische Spezialoperation werde fortgesetzt. Weitere ukrainische Gebiete wolle man nicht erobern, sagte er laut Agentur Tass. Russland wolle die Gebiete kontrollieren, die in seiner Verfassung festgeschrieben seien: die seit 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim sowie Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson.

Eine Lösung wie in Korea: Um den Preis der Teilung

Auf Vermittlung der Türkei haben beide Seiten schon mal miteinander geredet. Zuletzt sondierte Saudi-Arabien die Chancen für Gespräche.aktuell deutet alles auf einen Abnutzungskrieg hin; allen Anschein nach legt es gerade der Kremlchef darauf an, den Konflikt einzufrieren.

Schon im Frühjahr hatte der frühere Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, der erfahrene Diplomat Wolfgang Ischinger, gefordert, alle denkbaren außenpolitischen Szenarien durchzuspielen und Verhandlungen vorzubereiten. Er schlug eine Kontaktgruppe der Außenminister vor, ergänzend zu der Ramstein-Gruppe der Militärs.

Soll Putin wirklich sein Gesicht wahren können?

Letztlich geht es darum, Putin einen "Off-ramp"-Weg aufzuzeigen, wie die Diplomaten sagen. Im Klartext: Gesichtswahrung. Wer könnte eine Lösung vermitteln? Vielleicht die UNO wie beim Korea-Krieg? Mit Unterstützung von Vetomächten wie den USA und China? Und welche Person wäre als Mediator für beide Seiten akzeptabel, womöglich der frühere finnische Staatspräsident Sauli Niinistö, der Putin bestens kennt?

Zum ersten Jahrestag des Krieges bemerkte der amerikanische Historiker Stephen Kotkin im US-Magazin "The New Yorker", "wir wollen eine Ukraine nach südkoreanischem Vorbild aufbauen". Seiner Meinung nach wäre es für die Ukraine die Chance, trotz möglicher Gebietsverluste an Russland "das Land zu sein, das sie sein will, es verdient zu sein und mit unserer Unterstützung sein könnte". Es liefe auf eine Teilung des Landes hinaus. Wäre es ein akzeptabler Preis für den Frieden, für das Ende der unsäglichen Opfer und für die Chance auf einen Wiederaufbau?

Vor genau 70 Jahren – Ende Juli 1953 – endete der Korea-Krieg mit einem Waffenstillstand und mit der Teilung des Landes. Schon im Mai schrieb das Magazin "Politico" mit Bezug auf Quellen in der Regierung in Washington, dass der Ukraine-Krieg als eingefrorener Konflikt enden könnte: ohne erklärten Sieger und mit einer Demarkationslinie statt einer etablierten Grenze. In den USA wird ein solches Szenario durchgespielt – und in der Nato.

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