Kiew/Berlin. Zwei Monate nach Beginn der ukrainischen Offensive gibt es wenig Bewegung an der Front. Woran liegt das? Kann Kiew trotzdem gewinnen?

Rund zwei Monate dauert die ukrainische Gegenoffensive bereits. Was hat sie bislang gebracht? Warum zieht sich der Krieg so in die Länge? Welche Waffen sind entscheidend? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Was hat die Ukraine mit ihrer Gegenoffensive bislang erreicht?

Die Bilanz ist gemischt. Im Westen gab es zum Teil die unrealistische Erwartung, dass die ukrainischen Truppen innerhalb kürzester Zeit bis zum Asowschen Meer vordringen können. Auch in Kiew hoffte man, dass es schneller geht.

Die Ukrainer haben laut Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar in den vergangenen acht Wochen rund 240 Quadratkilometer zurückerobert – also eine Fläche von gut 14 mal 14 Kilometern. An einigen wichtigen Stellen der Südfront ist die ukrainische Armee bis auf sieben bis zehn Kilometer zur ersten Hauptverteidigungslinie der Russen herangerückt.

Warum verläuft die ukrainische Offensive so langsam?

Die Russen hatten rund ein Jahr Zeit, mehrere Verteidigungslinien aufzubauen, die großflächig vermint sind. Die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine kamen zudem erst Anfang 2023 auf Touren. „Die Ukraine knackt schrittweise das Verteidigungssystem der Russen“, sagte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion. „Dieses hermetische System besteht aus Schützengräben, Panzersperren, Minenfeldern, Artillerie, Kampfhubschraubern und Infanterie. Die Elemente sind so miteinander verkettet, dass das nicht einfach aufgebrochen werden kann.“

Können die Ukrainer die Minenfelder der Russen überwinden?

„Die Minenräumung geht nur mit Feinstarbeit und kostet Zeit“, betont DGAP-Mann Mölling. „Die Umgehung oder Sprengung der Minenfelder ist schwierig. Deswegen bekommen die Ukrainer kein Tempo in ihre Offensive.“

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Was hat die westliche Militärtechnologie der Ukraine gebracht?

Enorm viel. Das deutsche Flugabwehr-System Iris-T habe eine Trefferquote von praktisch 100 Prozent, sagen ukrainische Militärs. Die amerikanischen Patriot-Systeme hätten sich beim Abschuss von russischen Kinschal-Hyperschallraketen und Iskander-Raketen bewährt.

Zwar wurden einige Kampfpanzer vom Typ Leopard und Schützenpanzer vom Typ Marder und Bradley zerstört, doch sie schützen die jeweiligen Besatzungen wesentlich besser als russische Panzer. Die Ukrainer haben mit Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow (Großbritannien) und Scalp (Frankreich) russische Kommandostellungen und Depots weit hinter der Frontlinie zerstört. Die Raketen haben eine Reichweite von mehr als 250 Kilometern.

„Die westliche Kriegsführung hat sich bewährt: Sie setzt sehr stark auf Präzision und nicht auf Masse wie die Russen. Deren schwere Artillerie kann hier nicht mithalten“, resümiert der DGAP-Militärexperte Mölling. Die Ukrainer fordern mehr von allen bislang gelieferten westlichen Waffensystemen: Minensuchräumer, Munition oder Flugabwehr.

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Darüber hinaus bittet Präsident Wolodymyr Selenskyj Deutschland um die Entsendung von Taurus-Marschflugkörpern, die eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern haben. Nach Ansicht von Mölling zu Recht. „Immer wieder wird das Argument wie eine alte Schallplatte aufgelegt: Die Entsendung von Taurus-Raketen sei eine Eskalation. Das ist Unsinn. Die Briten und Franzosen haben bereits ähnliche Flugkörper geliefert. Da entsteht keine neue Qualität.“

Frontlinie in Bachmut: Ein ukrainischer Soldat spricht über Funk mit seinem Team, bevor eine Panzerhaubitze „Bohdana
Frontlinie in Bachmut: Ein ukrainischer Soldat spricht über Funk mit seinem Team, bevor eine Panzerhaubitze „Bohdana" auf russische Stellungen abfeuert. © dpa | Evgeniy Maloletka

Kann die Ukraine die Personal-Ressourcen Russlands wettmachen?

Moskau hatte nach massiven Kriegsverlusten im vergangenen Jahr bei einer Teilmobilmachung rund 300.000 Reservisten eingezogen. Zugleich flohen damals aber auch Zehntausende vor einem möglichen zwangsweisen Kriegseinsatz ins Ausland. Nach Angaben des Vizechefs des russischen nationalen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, haben seit Januar mehr als 231.000 Russen einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben.

DGAP-Experte Mölling ist allerdings skeptisch: „Es deutet einiges darauf hin, dass die russischen Kräfte am Anschlag operieren. Sie haben wohl fast keine Reserven mehr.“ Die Ukraine hat rund 250.000 aktive Soldaten. Die Zahl der Reservisten wird auf eine Million geschätzt. Auf der langen Zeitschiene hat Russland aufgrund seiner dreimal größeren Bevölkerung Vorteile.

Lesen Sie hier das gesamte Interview mit Christian Mölling.

Welchen strategischen Sinn ergeben die ukrainischen Drohnenangriffe auf russisches Territorium?

Die jüngsten Drohnenattacken auf Moskau zielen zunächst auf eine psychologische Wirkung: Die Russen sollen verunsichert werden. Die Angriffe sollen in der Bevölkerung und im Militär für Unzufriedenheit sorgen und die Risse im System Putin vergrößern. Aber die Ukrainer verfolgen auch ein strategisches Ziel: Je mehr Flugabwehr in Moskau gebunden wird, desto weniger bleibt potenziell für die Front übrig.

„Allerdings hat die Ukraine eine neue Generation von Drohnen entwickelt, die von der russischen Flugabwehr nur schwer zu erkennen sind“, unterstreicht DGAP-Experte Mölling. „Diese haben eine Reichweite circa 1000 Kilometern, verfügen jedoch über keine hohe Tragkraft.“ Gelinge es den Ukrainern jedoch, die Tragkraft zu steigern oder ganze Drohnenschwärme loszuschicken, bekämen sie damit ein zusätzliches militärisches Instrument.

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Stehen die Ukrainer unter Zeitdruck?

Das trifft weniger auf den Süden der Ukraine zu. Dort sind im Prinzip immer Kämpfe möglich. Regen ist Mitte bis Ende Oktober eher im Donbass ein Problem. Der September könnte ein Schlüsselmonat für die Gegenoffensive sein – wie beim Vormarsch der Ukrainer in der Region Charkiw im vergangenen Jahr.

Wann wäre die ukrainische Gegenoffensive ein Erfolg?

Das hängt vom Standpunkt ab. Kiew sagt: Wenn alle besetzten Gebiete befreit sind. Einige westliche Regierungen argumentieren: Wenn die Ukraine aus einer starken Position mit Russland verhandeln kann.

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DGAP-Experte Mölling sieht durchaus Chancen, wie die ukrainische Armee die russischen Truppen in die Knie zwingen könnte. „Wir sind noch nicht in der Hauptphase der Offensive. Die Ukrainer testen noch das vorsichtige Vorrücken. Wenn sie es schaffen, durch die erste russische Verteidigungslinie zu kommen, wird die Offensive erfolgreich sein“, so Mölling.

„Es würde reichen, wenn die ukrainischen Verbände bis zu den querverlaufenden Versorgungslinien auf Eisenbahn und Straße in Richtung Melitopol vorstoßen. Dann könnten sie das ganze Gebiet bis zum Asowschen Meer mit Artillerie und Raketenartillerie beschießen. Das Terrain wäre dann für die Russen nicht mehr zu verteidigen.“ Wenn die Russen den Süden der Ukraine nicht mehr halten könnten, bleibe ihnen nur eines: abziehen.