Berlin. Die ukrainische Offensive stecke noch in der „Testphase“, sagt der Experte Christian Mölling. Hier erklärt er, wie sie gelingen könnte.

Vor rund zwei Monaten hat die ukrainische Gegenoffensive begonnen. Derzeit gibt es keine größeren Bewegungen an der Front. Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin erklärt, woran das liegt und wie die Ukrainer doch noch erfolgreich sein könnten.

Herr Mölling, was hat die Ukraine in zwei Monaten Gegenoffensive erreicht?

Christian Mölling: Die Gegenoffensive geht langsam, aber sicher voran. Es gab im Westen die falsche Erwartung, dass die ukrainischen Truppen innerhalb kürzester Zeit bis zum Asowschen Meer vordringen können. Das war nicht möglich, da der Westen nicht ausreichend die nötigen Waffen geliefert hat.

Aber der Vormarsch der Ukrainer erfolgt doch recht langsam?

Mölling: Die Ukraine knackt schrittweise das Verteidigungssystem der Russen, das bereits vor einem Jahr aufgebaut worden ist. Dieses hermetische System besteht aus Schützengräben, Panzersperren, Minenfeldern, Artillerie, Kampfhubschraubern und Infanterie. Die Elemente sind so miteinander verkettet, dass das nicht einfach aufgebrochen werden kann.

Die Ukrainer können zum Beispiel nicht die Minenfelder zerstören, weil sie dann sofort unter Artillerie- oder Kampfhubschrauberbeschuss kommen. Die ukrainische Armee hat die russische Artillerie als einen machbaren Hebel ausgemacht: Diesen beschießen sie jetzt massiv.

Befürchten Sie, dass die Offensive in einen verlustreichen Stellungskrieg mündet – ähnlich der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg?

Mölling: Nein. Die Ukrainer befinden sich in der Offensivbewegung. Die Parallelen zu den Grabenkriegen des Ersten Weltkriegs passen nicht. Die Ukrainer haben in den vergangenen Monaten erhebliche Teile der russischen Logistik zerstört: die Umschlagplätze für Munition, Fahrzeuge und Lebensmittel. Das führt dazu, dass die Russen ihre Soldaten nicht mehr versorgen können. Sie bluten von hinten aus.

Können die Ukrainer die dichten Minenfelder der Russen überwinden?

Mölling: Die Minenräumung geht nur mit Feinstarbeit und kostet Zeit. Die Umgehung oder Sprengung der Minenfelder ist schwierig. Deswegen bekommen die Ukrainer kein Tempo in ihre Offensive.

Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). © ZDF und Markus Hertrich | Markus Hertrich

Was hat die westliche Militärtechnologie den Ukrainern bislang gebracht?

Mölling: Alles. Die westliche Kriegsführung hat sich bewährt: Sie setzt sehr stark auf Präzision und nicht auf Masse wie die Russen. Deren schwere Artillerie kann hier nicht mithalten. Gleichzeitig kommt die Qualität nicht voll zur Geltung, wenn es an der Quantität fehlt. Wenn der Gegner sehr viele schlechten Waffen hat, kann dies auch ein Vorteil sein.

Woran mangelt es den Ukrainern?

Mölling: Die Ukraine braucht mehr von allen bislang gelieferten westlichen Waffensystemen: Minensuchräumer, Munition oder Flugabwehr. Darüber hinaus benötigen die Ukrainer Raketen mit größerer Reichweite. Deutschland sollte endlich „Taurus“-Marschflugkörper schicken. Immer wieder wird das Argument wie eine alte Schallplatte aufgelegt: Die Entsendung von „Taurus“-Raketen sei eine Eskalation. Das ist Unsinn. Die Briten und Franzosen haben bereits ähnliche Flugkörper geliefert. Da entsteht keine neue Qualität.

Die Bundesregierung agiert zu langsam?

Mölling: Die zögerlichen Waffenlieferungen an die Ukraine zeigt die Unbedarftheit westlicher – auch deutscher – Entscheidungsträger in Politik und Regierung. Die Bundesregierung müsste endlich einen Plan darüber machen, was die Ukrainer in sechs Monaten brauchen. Deutschland ist bislang immer zu spät gekommen.

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Die Ukrainer attackieren verstärkt russisches Territorium mit Drohnen. Welchen strategischen Sinn hat das?

Mölling: Noch haben die Drohnenangriffe nur symbolischen Wert. Allerdings hat die Ukraine eine neue Generation von Drohnen entwickelt, die von der russischen Flugabwehr nur schwer zu erkennen sind. Diese haben eine Reichweite circa 1000 Kilometern, verfügen jedoch über keine hohe Tragkraft. Dies zeigt zunächst, dass der russische Präsident Wladimir Putin nicht in der Lage ist, seine Hauptstadt zu schützen. Das hat eine psychologische Wirkung. Gelingt es den Ukrainern jedoch, die Tragkraft zu steigern oder ganze Drohnenschwärme loszuschicken, bekommen sie damit ein zusätzliches militärisches Instrument.

Sind die Ukrainer nicht auch wegen des Wetters unter Zeitdruck – Regen bremst bekanntlich die Offensive?

Mölling: Das trifft auf den Süden der Ukraine weniger zu. Dort sind im Prinzip immer Kämpfe möglich. Regen ist im Herbst und Winter eher im Donbass ein Problem.

Wie stehen die Chancen der Ukrainer, einen Keil in die russische Landbrücke im Süden zu treiben?

Mölling: Man kann das nur vorsichtig schätzen. Wir wissen nicht, was Russland noch an Personal-Kapazitäten hat. Es deutet einiges darauf hin, dass die russischen Kräfte am Anschlag operieren. Sie haben wohl fast keine Reserven mehr. 80 bis 90 Prozent ihrer Truppen sind im Einsatz. Viele befinden sich in der ersten Verteidigungslinie. Je länger sie dort stationiert sind, desto mehr sinken Kampfkraft und Moral. Den Russen ist es kaum möglich, die zweite und dritte Verteidigungslinie nachzubesetzen. Die Ukrainer können dagegen mehr Leute an die Front senden. Die Chance ist weiterhin da, dass die Ukrainer bis zum Asowschen Meer vorrücken.

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Wann wäre die ukrainische Gegenoffensive ein Erfolg?

Mölling: Wir sind noch nicht in der Hauptphase der Offensive. Die Ukrainer testen noch das vorsichtige Vorrücken. Wenn sie es schaffen, durch die erste russische Verteidigungslinie zu kommen, wird die Offensive erfolgreich sein. Es würde reichen, wenn die ukrainischen Verbände bis zu den querverlaufenden Versorgungslinien auf Eisenbahn und Straße in Richtung Melitopol vorstoßen. Dann könnten sie das ganze Gebiet bis zum Asowschen Meer mit Artillerie und Raketenartillerie beschießen. Das Terrain wäre dann für die Russen nicht mehr zu verteidigen.

Halten Sie es für möglich, dass die Ukrainer alle besetzten Gebiete einschließlich der Krim befreien?

Mölling: Das ist eine Frage des Zeitraums. Die Ukrainer brauchen keinen Durchbruch. Es reicht, wenn sie sich so gut aufstellen, dass es für die Russen nicht mehr möglich ist, den Süden zu halten. Dann müssen sie abziehen. Dieser Krieg kann ohne eine Entscheidungsschlacht entschieden werden. Es braucht kein Ende wie in einem Hollywood-Film.