Berlin. Im Angriffskrieg sterben Tausende russische Soldaten – und offenbar viel mehr als der Kreml zugeben mag. Das belegen neue Recherchen.

„Igor war ein guter, sympathischer Mensch, ein guter Vater, er hat uns immer in allem geholfen, er hat uns sehr geliebt.“ Dann folgt der Satz, der sich in jedem Nachruf findet: „Durch das Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation wurde Igor Nikolaijewitsch posthum der Orden des Mutes verliehen.“ Es sind Texte wie dieser, die immer wieder im Netz und in sozialen Netzwerken erscheinen. Auch wenn die Behörden mancher russischen Regionen dies inzwischen verhindern wollen.

Denn nicht nur Freunde und Verwandte der toten Soldaten interessieren sich für derartige Meldungen. Auch Journalisten und Freiwillige des Online-Mediums Meduza und der Organisation Mediazona, gegründet von Aktivistinnen der Punk-Band Pussy Riot, durchforsten offen zugängliche Quellen, Lokalzeitungen, aber auch Seiten im Netz nach den Namen toter Soldaten. Sie sind einem Geheimnis auf der Spur: Wie viele Soldaten starben bislang bei den Kämpfen in der Ukraine? Von der ukrainischen Seite gibt es dazu gar keine Angaben. Mit Stand von September 2022 spricht das russische Verteidigungsministerium von knapp 4000 Toten.

Russland: Unabhängige Medien nennen erschreckende Zahlen

Bereits im Mai 2022 konnte Mediazona den Tod von 2099 russischen Soldaten einwandfrei nachweisen. „Diese Zahl spiegelt nicht das tatsächliche Ausmaß der Verluste wider“, schrieb die Organisation damals. „Wir sehen nur öffentliche Berichte über Todesfälle. Dazu gehören Beiträge von Angehörigen, Nachrichten in regionalen Medien und Berichte von lokalen Behörden. Darüber hinaus ist die Zahl der Vermissten und Gefangenen unbekannt.“ Mit Stand von Juni 2023 stieg die Zahl der Kriegstoten, deren Namen Mediazona bekannt sind, auf 26.800.

Datenanalyse enthüllt: Im Krieg Russlands gegen die Ukraine sind bereits Tausende russische Soldaten gestorben.
Datenanalyse enthüllt: Im Krieg Russlands gegen die Ukraine sind bereits Tausende russische Soldaten gestorben.

Doch die Rechercheure von Meduza und Mediazona gehen von einer wesentlich höheren Zahl aus. Bis Ende Mai 2023 seien 47.000 Russen im Krieg gestorben, sagen sie „Um präzise zu sein: Wir können mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die wirkliche Zahl zwischen 40.000 und 55.000 liegt.“ Der Kreml will diese Zahlen nicht kommentieren. „Wir haben aufgehört, Meduza zu beobachten, daher wissen wir nicht, worum es in diesem Material geht“, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

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Neben Berichten im Netz und in sozialen Netzwerken haben Datenjournalisten auch Statistiken ausgewertet. Besonders wichtig dabei: die sogenannte „Übersterblichkeit“. Aus Daten der russischen Statistikbehörden geht hervor, wie viele Menschen in jeder Altersgruppe pro Jahr sterben. Statistisch gibt es dafür Durchschnnittswerte. „Übersterblichkeit“ ist die Zahl der Verstorbenen, die darüber hinaus geht. Für deren Tod es andere als die normalen Ursachen geben muss. Da Corona in Russland kaum noch eine Rolle spielt, bleibt als Ursache der Krieg.

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Krieg gegen die Ukraine: Tote Russen stammen zumeist aus bestimmten Regionen

Auch um die Zahl der verletzten Soldaten geht es den Rechercheuren und Datenjournalisten von Meduza und Mediazona. Allerdings: „Unser Wissen über weitere Verluste der russischen Armee ist deutlich weniger umfassend. Berücksichtigt man die Schwerverletzten, die aufgrund ihrer Verletzungen aus dem Dienst entlassen wurden, dürfte die Gesamtzahl der Verluste bei rund 125.000 liegen.“

Und noch etwas fanden die Recherchegruppe heraus: Die meisten toten Soldaten stammen aus armen Regionen Russlands. Etwa aus Swerdlowsk, der am stärksten besiedelte Region im asiatischen Teil Russlands. Oder aus den gleichfalls ärmeren Region Tscheljabinsk. In den ersten Monaten der Kämpfe kamen die meisten Toten aus Burjatien und, vor allem, aus Dagestan. Dort liegt der durchschnittliche Monatslohn um die 200 Euro. Ein Vertrag als Zeitsoldat bringt dagegen vergleichsweise viel Geld. Hinzukommt: Viele Russen sind hoch verschuldet, müssen Kredite abzahlen. Auch ein Anreiz, sich freiwillig zu melden. Mehr zum Thema: Jugend der Ukraine im Ausnahmezustand – bewegende Bilder

Russische Soldaten an der Front in der Ostukraine: Angesichts der vielen Opfer pro Tag herrscht Experten zufolge eine Versorgungskrise bei der Betreuung verletzter russischer Soldaten.
Russische Soldaten an der Front in der Ostukraine: Angesichts der vielen Opfer pro Tag herrscht Experten zufolge eine Versorgungskrise bei der Betreuung verletzter russischer Soldaten. © Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Russischer Angriffskrieg: "Jeder dort hat jemanden in der Armee"

Neben Vertragssoldaten dienen aber auch Reservisten in der russischen Armee. Bei der Teilmobilisierung im letzten Herbst wurden gerade auch in ärmeren Regionen überdurchschnittlich viele junge Männer eingezogen. Auch in Dagestan, eine Region am Rande der Russischen Föderation. Sie grenzt an Georgien und Aserbaidschan. Dort, wo die Kämpfe in der Ukraine geographisch weit entfernt sind – und für die Angehörigen der vielen Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, persönlich so nahe. Gegen die Teilmobilisierung protestierten dort viele. In den größten Städten, Machatschkala und Chassawjurt, gingen Hunderte auf die Straße; Frauen schrien Polizisten an, ihre Söhne "nicht als Kanonenfutter“ in die Ukraine zu bringen.

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    Mehr über die toten Soldaten in Dagestan vor Ort herauszufinden, das ist schwierig. Eine Journalistin hat für das Netzportal Daptar.ru in den ersten Kriegsmonaten dort recherchiert. Zum Beispiel in der Stadt Iserbasch, 56.000 Einwohner, eine Fabrik für Elektroöfen, etwas Lebensmittelindustrie. Für die Menschen dort gebe es nur ein Thema: den Krieg und die Verwandten, die dort kämpfen und sterben. „Wen Sie auch fragen, jeder hat einen Angehörigen dort. Jemand hat einen Bekannten, jemand hat dort einen Cousin in der Armee, jemand hat einen Neffen. Alle, ohne Ausnahme“, hört man dort.

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    Eine Frau sagt: „Es ist nicht klar, wofür sie kämpfen, was dort passiert. Manche sagen das eine, andere etwas anderes. Wir sitzen einfach da und schauen, was im Fernsehen läuft, schauen auf Instagram.“ Und eine Mutter ergänzt: „Ich weiß nicht, wir wissen nicht, was los ist. Und wer leidet? Soldaten leiden, ihre Familien leiden, Mütter leiden, ihre Frauen.“ (fmg)