Cherson/Afanasiyvka. Nach dem Dammbruch ist das Wasser zurückgegangen in Cherson. Doch die Menschen fürchten langfristige Folgen – nicht nur in der Ukraine.

Im Garten des kleinen Gehöfts an der Stavkova-Straße hängt dreckige Kleidung über kreuz und quer gespannten Leinen, ein Kissen liegt über einem kniehohen Zaun, ein Weihnachtsbaum aus Plastik lehnt an einem Sofa, davor steht eine offene Kühltruhe. Alles ist von einem grauen Schleier überzogen. Yuri holt aus einer Kiste eines der Entenküken, hält es zärtlich in den großen Händen. Es hat die Flut überlebt. Mehr als vierzig andere Küken sind gestorben.

Yuri hat vieles verloren, als vor vier Wochen der Damm des Kachowka-Stausees nach einer Explosion brach. Die Folgen der Katastrophe werden den Süden der Ukraine noch lange beschäftigen.

Als am 6. Juni wenige Stunden nach Mitternacht eine Explosion das Wasserkraftwerk Kachowka erschüttert, bricht ein Teil der gewaltigen Staumauer ein, Wassermassen strömen aus dem See. Der Dnepr tritt über seine Ufer, in der Flut versinken Dutzende Dörfer. Am späten Nachmittag liegen Stadtviertel der Großstadt Cherson unter Wasser. Zwei Tage nach der Katastrophe erreicht das Wasser Afanasiyvka fünfzig Kilometer nördlich von Cherson.

Ukraine: Nach dem Bruch des Staudamms stand das Wasser brusthoch im Haus

Afanasiyvka ist ein kleines Dorf in der Region Mykolajiw. Es liegt inmitten des Inhulez, einem Nebenfluss des Dnepr. Obwohl es vom Fluss umgeben ist, gab es hier noch nie Probleme mit Hochwasser. Am Nachmittag des 8. Juni überschwemmt der Inhulez 82 Häuser im Dorf – darunter ist auch das Gehöft von Yuri, 56, das er sich nach dem Tod seiner Frau vor zwanzig Jahren gekauft hat.

Hier hat er in den vergangenen Jahren mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn Kälber gezüchtet und Hühner und Enten gehalten, erzählt der kräftige Mann. Knapp einen Monat nach der Flut steht er in dem Raum, der einmal sein Schlafzimmer war. Es riecht muffig hier drin, das Wasser ist erst seit einer Woche weg. Es hat brusthoch in dem Haus gestanden.

Yuri will nach nach dem Staudamm-Bruch seine Heimat nicht verlassen, er liebt seine Tiere und holt aus einer Kiste eines der Entenküken, das die Flut überlebt hat.
Yuri will nach nach dem Staudamm-Bruch seine Heimat nicht verlassen, er liebt seine Tiere und holt aus einer Kiste eines der Entenküken, das die Flut überlebt hat. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Wände sind feucht, der Putz ist abgeblättert. Auf einem Tischchen steht ein Röhrenfernseher, daneben ein Kühlschrank. Viel mehr hat Yuri nicht retten können. „Man kann sich alles neu kaufen“, sagt er. „Am wichtigsten ist doch, dass meinen Kindern und Enkelkindern nichts passiert ist.“

Als das Wasser steigt, sind Soldaten zur Stelle. Afanasiyvka war monatelang von Streitkräften der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk besetzt. Seit der Befreiung im Herbst sind hier ukrainische Soldaten stationiert. „Sie haben eine Ponton-Brücke gebaut und mir geholfen, meine sechs Kühe und die vier Kälber zu retten.“ Menschen sind im Dorf nicht zu Schaden gekommen. Nicht alle in der Region hatten so viel Glück.


Die hohen Ernteerträge waren nur möglich durch künstliche Bewässerung

Durch die Flut sollen Dutzende gestorben sein, wie viele genau, ist unklar: Aus den von Russland besetzten Gebieten, die von der Katastrophe betroffen sind, gibt es keine konkreten Informationen. Hinter seinem Haus, am Ufer des Inhulez, hatte Yuri vor der Flut Kartoffeln angebaut. Die Ernte fällt für ihn in diesem Jahr aus, die Pflanzen sind zerstört. Es geht Tausenden Menschen im Süden der Ukraine wie Yuri.

Vom früheren Stausee ist nur noch der Fluss übrig geblieben. Das Gerüst zeigt die Höhe des früheren Wasserpegels.
Vom früheren Stausee ist nur noch der Fluss übrig geblieben. Das Gerüst zeigt die Höhe des früheren Wasserpegels. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

In der am stärksten von der Flut betroffenen Region Cherson, die an die Region Myolajiw angrenzt, sind allein in den ukrainisch kontrollierten Gebieten etwa 2300 Hektar landwirtschaftlich genutzte Fläche überflutet worden, berichtet Dmytro Yunusow, der stellvertretende Direktor der Abteilung für landwirtschaftliche Entwicklung und Bewässerung der Militärverwaltung von Cherson. „Das größte Problem wird für die Region aber nicht die Überschwemmung des Landes sein, sondern der Wassermangel“, sagt er.

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Die Region Cherson war vor dem russischen Überfall im Februar 2022 eine der landwirtschaftlich produktivsten in der Ukraine. Nirgendwo sonst wurde so viel Gemüse oder Reis angebaut, beim Getreideanbau lag Cherson hinter Odessa und der ebenfalls von der Flut betroffenen Region Mykolajiw. Die hohen Ernteerträge waren nur möglich durch künstliche Bewässerung. „Das hier ist eigentlich eine Steppenlandschaft“, erklärt Yunusow.

So fühlt sich Krieg anSo fühlt sich Krieg an

Vor Staudamm-Katastrophe: Das Wasser stand 16 Meter hoch

„Aber die Pumpstationen, die sich am Inhulez und am Dnepr befanden, wurden alle überflutet, als der Damm gesprengt wurde. Sie sind jetzt kaputt. Es gibt keine Bewässerung mehr“, sagt der Fachmann. Ohne künstliche Bewässerung droht der Region ein Ende des Anbaus von Gemüse und Mais, warnt Yunosow. „Die Steppe wird sich in eine Wüste verwandeln.“ Der Krieg ist nicht weit weg, aber im Augenblick drängt hier eine andere Katastrophe.

Am Ufer dessen, was einmal der Kachowka-Stausee war, wird das ganze Ausmaß deutlich. Zwar ist noch immer Wasser zu sehen. Aber das ist das ursprüngliche Flussbett des Dnepr, der durch das Bauwerk aufgestaut worden war. An der steilen Uferböschung zeigen dunkle Erd- und Sandschichten, wie hoch das Wasser ursprünglich stand: über 16 Meter. Jetzt ist es um zwölf Meter gesunken.

Nach der Flut hat Yuri versucht, zu retten, was zu retten war. Auch das kleine Kuscheltier.
Nach der Flut hat Yuri versucht, zu retten, was zu retten war. Auch das kleine Kuscheltier. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

„Von den fast 19 Kubikkilometern Wasser, die im Kachowka-Stausee waren, ist fast alles verschwunden“, berichtet Yuri Kirijak. Er ist der Leiter des regionalen Zentrums für Hydrometeriologie in Cherson. Zum Vergleich: Im Bodensee befinden sich 48 Kubikkilometer Wasser. Auch Kirijak warnt eindringlich: „Wenn wir das Bewässerungsproblem nicht lösen, werden wir in eine Situation kommen, in der die Wüstenbildung dieses Gebiets beginnen wird.“

Sowjets bauten den Staudamm und die Bewässerungssysteme

Es ist ein Problem, vor dem die Region bereits einmal im vergangenen Jahrhundert stand. Wassermangel, wiederkehrende Dürren, Erosion und Massentierhaltung ließen den Süden verdorren. Die Sowjets führten ab den 1950er Jahren ein massives Aufforstungsprogramm durch, bauten den Staudamm und die Bewässerungssysteme. „Das führte dazu, dass wir hier vermehrt Niederschläge hatten und das Klima für die Landwirtschaft geeigneter wurde“, erläutert Kirijak.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Durch die Kampfhandlungen in der Region sei nicht nur der Kachowka-Staudamm zerstört worden. „Sie zerstören auch die Wälder. Sie brennen ab.“ Dadurch, und durch den Klimawandel, der in der Region vor dem Kriegsausbruch bereits spürbar gewesen sei, drohe ein Aussterben von Pflanzenarten, die in den vergangenen siebzig Jahren in der Region heimisch geworden seien. „Der Wassermangel wird zu einer Veränderung der Vegetation führen. Es ist nicht klar, ob wir Zeit haben, die Bewässerungssysteme wieder herzustellen, ehe die Pflanzen absterben“, warnt Kirijak.

Eine Behelfsbrücke führt zu seinem Vieh

Der Wasserexperte mahnt: „Wir müssen alle Maßnahmen ergreifen, die notwendig sind, um die Ressourcen wiederherzustellen, die durch diesen terroristischen Akt eines Nachbarlandes verloren gegangen sind.“ Ob es nötig ist, den Staudamm wieder aufzubauen, weiß Kirijak nicht. Vielleicht reiche es auch, moderne Bewässerungstechniken anzuwenden, um Wasser aus dem Fluss zu pumpen.

Die Flut nach der Staudamm-Explosion hat alles zerstört. Doch Yuri will bleiben.
Die Flut nach der Staudamm-Explosion hat alles zerstört. Doch Yuri will bleiben. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Sicher ist nur: Würden die Region Cherson und die angrenzenden Regionen im Süden der Ukraine zu einer Wüste, ist nicht nur die Ernährungssicherheit des Landes bedroht. „Die Getreideernten hier haben auch zur Ernährungssicherheit weltweit beigetragen.“ Allein in Cherson wurden im Jahr vor dem russischen Überfall 1,5 Millionen Tonnen Getreide angebaut.

Yuri, der Kleinbauer aus Afanasiyvka macht sich keinen Kopf um die großen Probleme. Er geht mit den anderen Bewohnern des Dorfes bei Sonnenuntergang über eine Behelfsbrücke, die Soldaten gebaut haben. Sie müssen diese Brücke nutzen, um auf die andere Seite des Inhulez zu gelangen, wo ihr Vieh in einer verlassenen Farm darauf wartet, versorgt zu werden. „Wir helfen uns hier gegenseitig“, sagt Yuri. Verlassen will er Afanasiyvka trotz der Katastrophe nicht. Es gibt keinen Ort, wo er hingehen kann. Das Dorf ist seine Heimat. Er hofft einfach darauf, dass es eine Zukunft hat.

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