Nach der Explosion an einem Staudamm erreichen die Fluten Cherson. „Erst hatten wir das Feuer, jetzt kommt das Wasser“, sagt eine Frau.
Mariya steht mit ihrem Telefon an der Kreuzung der Petrenka und der Voroncovska, sie macht ein Videotelefonat mit ihrer Tochter in Spanien, und sie ist fassungslos, weil die Kreuzung sich in einen See und die Petranka sich in einen reißenden Fluss verwandelt hat. „Erst hatten wir das Feuer, jetzt kommt das Wasser“, sagt die Mittsechzigern. „Es ist einfach nur ein Horror.“
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Cherson am Dienstagnachmittag. Es ist viertel nach Fünf. Vor fast 15 Stunden hat eine Explosion im Wasserkraftwerk Kachowka den Damm des Stausees siebzig Kilometer von der Stadt im Süden der Ukraine beschädigt. Der Wasserspiegel des Dnepr, an dem Cherson liegt, ist dramatisch gestiegen, und jetzt tritt er auch in der Stadt über die Ufer. „Heute Morgen um sieben Uhr war das Wasser vierhundert Meter entfernt, jetzt ist es hier, und steigt weiter“, berichtet Andrej Kovanj der Sprecher der lokalen Polizeibehörden.
Cherson nach Staudamm-Sprengung: Zahlreiche Menschen müssen evakuiert werden
Etliche Menschen müssen an diesem Tag aus den ufernahen Gebieten in Sicherheit gebracht werden. Zum Glück, sagt Kovanj, gebe es noch keine Berichte über verletzte oder gar tote Zivilisten. Bei den Rettungsmaßnahmen werden aber zwei seiner Kollegen durch russischen Beschuss verletzt.
Trotz der Überflutungen und obwohl sie sich selbst wegen des steigenden Wassers zurückziehen mussten, greifen die russischen Streitkräfte die Stadt vom anderen Ufer des Dnepr aus weiter an, so wie sie es täglich machen, seit sie Cherson im vergangenen November verlasen mussten. Die meisten der Einwohner haben die Stadt wegen der ständigen Angriffe verlassen. Auch an diesem Nachmittag sind immer wieder Detonationen zu hören.
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Ein Mann schiebt sein Fahrrad durch das Wasser, an einer Leine ein Hund, der sich sichtlich unwohl fühlt. Ein Kind rennt lachend durch die Fluten, ein Ambulanzwagen fährt mit hoher Geschwindigkeit durch das Wasser, Wellen schwappen in Richtung der Anwohner, die sich versammelt haben, reden und Fotos machen. Polizisten wie Kovanj beobachten die Szene aufmerksam.
Südostukraine: Müssen nun alle Menschen die Region verlassen?
Oleksandr, 51, lebt einige Blocks entfernt von der überspülten Kreuzung, an der das Bürogebäude der regionalen Staatsanwaltschaft liegt. „Heute Morgen haben wir meinem Bruder geholfen, sich und seine Sachen in Sicherheit zu bringen. Er lebt in der Nähe des Ufers in der Nasypnyi-Gasse“, erzählt er. Das Wasser stehe hüfthoch im Haus seines Bruders. Oleksandr ist wütend auf die Sicherheitskräfte in der Stadt. „Hier ist alles voller Soldaten und Polizisten, aber niemand hilft uns wirklich oder hält das Wasser auf. In Europa wäre das ganz anders.“
Ein junger Mann mit einer Krücke sieht das ganz anders. Bitter sei das, was Cherson gerade geschehe, sagt Ruslan, Mitte zwanzig. „Aber vielleicht hilft es, dass die Leute verstehen, dass der Krieg weitergeht, und sie nicht nur den Soldaten und Polizisten alles überlassen.“ Er ist selbst Soldat, dient bei der 95. Brigade, und ist im Kampf verwundet worden. „Ich bin gerade erst nach Hause gekommen“, sagt er. Er glaubt: Das Beste wäre es, wenn der Präsident zum militärischen Sperrgebiet erklären würde und alle verbliebenen Bewohner gezwungen würden, Cherson zu verlassen.
Gegen 18 Uhr ist das Wasser an der Kreuzung weiter gestiegen. Wie es weiter geht? „Ich bin kein Experte“, sagt der Polizist Kovanj und zuckt mit den Schultern.
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