Berlin/Cherson. Tausende Menschen in Gefahr: Schockierende Satellitenbilder enthüllen das Ausmaß der Zerstörung am Kachowka-Staudamm in der Ukraine.
Am Dienstagmorgen stürzte der Staudamm Kachowka am Fluss Dnipro nach einer Explosion zusammen. Die katastrophalen Auswirkungen der Zerstörung betreffen Mensch, Tier und Umwelt. Entlang der Frontlinie im südlichen Teil der Ukraine überschwemmten große Wassermassen ganze Landstriche. Tauende Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Die Folgen im ukrainischen Kriegsgebiet werden zunehmend offensichtlich.
Ukraine: So schlimm sind die Folgen nach der Staudamm-Katastrophe
"Die Verluste für die Fischerei durch den Verlust aller biologischen Ressourcen werden gravierend sein. In der Region Cherson wurde bereits ein Fischsterben registriert", sagte der ukrainische Botschafter in Berlin, Oleksii Makeiev, unserer Redaktion am Freitag. "Die Gesamtschäden werden erst sichtbar, wenn das Wasser abgelaufen ist."
"Mehr als 20.000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche, auf der sich der ukrainische Gemüseanbau konzentrierte, wurden für viele Jahre außer Betrieb genommen", erklärte der ukrainische Botschafter. "Die Getreidelager stehen unter Wasser. Nur wenige Schiffe in den Schwarzmeer-Häfen, die die ganze Welt mit Getreide beliefern, können beladen werden." Zum Interview: Botschafter Makeiev: "Mienen können jederzeit explodieren"
Ukraine: Kachowka-Dammbruch hat katastrophale Folgen
Das Wasser hat auch weite Teile des teils russisch besetzten Gebiets Cherson im Süden der Ukraine überschwemmt. Nach Angaben der Besatzungsbehörden sind bisher acht Menschen gestorben. "Leider gibt es Opfer, das ist unausweichlich bei einer Katastrophe diesen Ausmaßes", teilte der von Moskau eingesetzte regionale Statthalter Wladimir Saldo am Freitag im Telegram-Nachrichtenkanal mit.
Unterdessen laufen nach der Staudamm-Zerstörung in Cherson die Rettungsarbeiten auf Hochtouren. Doch die Staudamm-Zerstörung könnte noch eine weitere Katastrophe auslösen. Experten äußern etwa Sorge um das AKW Saporischschja, wo der Kühlteich unter Druck gerät.
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Experte warnt: Sorge um AKW Saporischschja trotz monatelanger Kühlreserven
Das größte europäische Kernkraftwerk bezieht Wasser zur Kühlung der sechs stillgelegten Reaktoren und des Atommülls aus dem aufgestauten Dnipro. Der Pegelstand dieses Reservoirs könnte laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) schon bald so tief sinken, dass daraus kein Wasser mehr abgepumpt werden kann.
Das AKW verfügt über einen etwa zwei mal drei Kilometer großen Kühlteich, sowie kleinere Kühlteiche, Kanäle und Brunnen, mit denen die Kühlsysteme monatelang weiterbetrieben werden können, um ein katastrophales Überhitzen wie in Tschernobyl (1986) oder Fukushima (2011) zu verhindern. Auch interessant: Russen besetzten Tschernobyl – und begingen tödlichen Fehler
Unter normalen Umständen reiche dieses Zeitfenster aus, um etwa Ansaugrohre im Dnipro-Reservoir tiefer zu legen, sagte Nikolaus Müllner, Leiter des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaftender von der Universität für Bodenkultur in Wien. Es sei jedoch schwer einschätzbar, ob dies aktuell möglich sei, "da das Kernkraftwerk direkt an der Frontlinie liegt", so der Experte. Lesen Sie hier: Vier Theorien: So könnte der Staudamm zerstört worden sein
Ukraine: Wasserstand sinkt in überfluteten Teilen
Einen kleinen Lichtblick gibt es aber: Inzwischen beginnt der Wasserstand nach Angaben der ukrainischen Behörden in Teilen der betroffenen Gebiete zu sinken. 35 Siedlungen auf der rechten Seite des Flusses Dnipro seien noch überflutet, mehr als 3700 Häuser stünden unter Wasser, "aber das Wasser geht allmählich zurück", erklärte Oleksandr Prokudin, Chef der ukrainischen Militärverwaltung in der Region Cherson, am Freitag.
Der Wasserstand in der Region sei im Laufe des Freitags von durchschnittlich rund 5,4 Metern auf nahezu fünf Meter gesunken, fuhr Prokudin fort. Sein Kollege in der Region Mykolajiw, Vitali Kim, gab ebenfalls an, dass der Pegel dort absinke. Lesen Sie hier: Cherson: 93-Jähriger wird gerettet – dann greifen Russen an
Ukraine: Pegelstand im Kachowka-Stausee sinkt weiter schnell ab
Inzwischen habe der Stausee mehr als ein Drittel des im Frühjahr angesammelten Hochwassers verloren, berichten ukrainische Behörden. "Stand 12.00 Uhr am 10. Juni ist das Niveau des Kachowka-Stausees im Raum Nikopol auf 10,2 Meter gesunken", teilte der ukrainische Wasserkraftversorger Ukrhidroenerho am Samstag auf seinem Telegram-Kanal mit. Die Wasserkraftanlagen arbeiten nach Angaben des Betreibers mit halber Kraft.
Zugleich teilte Ukrhidroenergo mit, dass am Oberlauf des Dnipro nun stärker Wasser angestaut werde, um im Sommer Strom generieren zu können. Der Dnipro ist als drittgrößter Fluss Europas in der Ukraine an sechs Stellen für die Stromproduktion aufgestaut.
Seit langem wurde vor einer solchen Katastrophe in der Region Cherson in der Ukraine gewarnt, nachdem Russland den Staudamm vor Monaten vermint hatte. Die Ukraine wirft den russischen Besatzern vor, ihn gesprengt zu haben. Moskau weist das zurück. Bei der Katastrophe kamen mindestens 13 Menschen ums Leben, die Opferzahlen könnten noch weiter steigen. (soj/dpa)