Kiew. Volodymyr Koskin war Priester in Mariupol. Die Stadt ist heute zerstört, seine Mutter wurde getötet. Wie er sein Überleben sichert.

Eine junge Frau hält ein Baby in ihren Armen. Ihre Hände zittern. Das Baby ist blutüberströmt. Erneut haben das Grauen und der Tod die Ukraine heimgesucht. Zwei russische S-300-Raketen sind am Dienstagabend in Kramatorsk im Osten des Landes eingeschlagen. Eine trifft ein gut besuchtes Restaurant. Bis zum Mittwochmittag holen Helfer zehn Tote aus den Trümmern, darunter sind drei Kinder. 61 Menschen werden verletzt. Volodymyr Koskin hat die Bilder und die Videos gesehen. Er ist erschüttert. Weinen will er nicht. „Wir müssen aber später um unsere Toten trauern. Der Feind soll unsere Tränen nicht sehen“, sagt der asketische Mann in dem schwarzen Anzug und dem schwarzen Hemd mit dem weißen Stehkragen.

Koskin ist Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine. Im Sommer vergangenen Jahres treffen wir den heute 46-Jährigen zum ersten Mal in Dnipro im Osten der Ukraine. Mit seiner Frau Yuliya und seinem Sohn Svyatoslav war er eineinhalb Monate zuvor aus Mariupol geflohen, der Hafenstadt am Asowschen Meer, die bei den erbitterten Kämpfen zwischen den russischen Streitkräften und den ukrainischen Verteidigern zu einer Ruinenlandschaft zerschossen wurde. Auch Koskins Kirche wird zerstört. Seine Mutter stirbt bei einem Bombenangriff. Jetzt lebt die Familie in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der nun beinahe 500 Tage andauernde Krieg bestimmt Koskins Leben.

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Krieg in der Ukraine: „Unsere Gesellschaft hat gezeigt, dass sie funktioniert“

In der Nacht hat der Priester bis um eins einer Flüchtlingsfamilie aus Mariupol geholfen, sie lebt in einem heruntergekommenen Appartement, der Balkon musste repariert werden. Am frühen Morgen ist er noch mit seinem grünen VW-Transporter unterwegs gewesen, so wie jeden Morgen ab spätestens sechs Uhr. „Ich muss Geld für die Familie verdienen, deswegen arbeite ich als Taxifahrer“, erzählt er auf einer Bank in einem Park im Kiewer Stadtteil Holosiivskyi. Hier sind an diesem warmen Sommertag viele Jogger und Spaziergänger unterwegs. Kiew wirkt, als hätten die Menschen hier den Krieg vergessen. Aber es ist wohl nur Selbstschutz. Der Tod aus der Luft kann überall in der Ukraine zuschlagen. Erst am Samstagmorgen sind in Kiew drei Menschen bei Angriffen gestorben.

„Unter den Toten war ein junges Paar“, sagt Koskin und räuspert sich, versucht, in der Erinnerung an die Tragödie das Positive zu sehen. „Sofort nach der Explosion sind Freiwillige gekommen, ganz normale Leute, die haben geholfen und die Trümmer beseitigt.“ Es sind diese Momente der gelebten Solidarität, die ihm Kraft geben. Die hat er schon in Dnipro erlebt. Am 14. Januar zerstört eine russische Rakete einen Wohnblock in seiner Nachbarschaft. 46 Menschen sterben, Dutzende werden verletzt. „Da waren auch Kinder darunter. Es war furchtbar. Aber unsere Gesellschaft hat gezeigt, dass sie funktioniert. Die Kirchen, die Rettungsdienste und Freiwillige haben zusammengearbeitet.“

Volodymyr Koskin in Kiew: Wegen des Kriegs arbeitet der Priester als Taxifahrer.
Volodymyr Koskin in Kiew: Wegen des Kriegs arbeitet der Priester als Taxifahrer. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Koskin hat einen Job, antreten kann er ihn aber noch nicht

Im März zieht Koskin mit seiner Familie in die Hauptstadt. Sein zehnjähriger Sohn hat ADHS, in Kiew gibt es Schulen, in denen der Junge inklusiv unterrichtet werden kann, hier gibt es bessere Therapiemöglichkeiten. Der Priester organisiert Hilfstransporte, etwa in die Gebiete in der Region Cherson im Süden des Landes, die von den Überflutungen nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms betroffen waren. Er unterstützt Flüchtlinge, hilft ihnen bei der Jobsuche.

Auch Koskin muss arbeiten. Seine Kirche hat ihm eine Anstellung in einem kleinen Dorf nahe Kiew besorgt, aber in der dortigen Gemeinde predigt noch ein Priester der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die sich erst im vergangenen Jahr vom Moskauer Patriarchat gelöst hat, aber immer noch verdächtigt wird, das Sprachrohr Russlands in der Ukraine zu sein. Jetzt soll sie verboten werden.

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Taxifahrer und Seelsorger zugleich

„Bis die Gerichte darüber entschieden haben, kann ich die Anstellung nicht beginnen“, sagt Koskin. Aus seiner Verachtung der konkurrierenden Kirche macht er wenig Hehl. „In der Sowjetunion hat der KGB die Kirche genutzt, um Propaganda unters Volk zu streuen. Das machen sie auch heute noch.“ Aber er sagt auch: „Wir wollen die Moskauer nicht einfach herausschmeißen, wir sind zivilisiert.“

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Für ihn heißt das: Er muss für seinen Lebensunterhalt in anderen Jobs arbeiten. Morgens und abends als Taxifahrer, dazwischen bei einem Buchverlag. Als Taxifahrer ist er manchmal auch Seelsorger. „Wenn ich sehe, dass Menschen traurig sind, spreche ich sie an, und dann versuche ich ihnen, Unterstützung und Halt zu geben.“ Er erinnert sich gut an ein Mädchen, dessen Freund in russische Gefangenschaft geraten war, mit der jungen Frau hat er stundenlang geredet. Am Wochenende hält er Gottesdienste, regelmäßig wird er zu Beerdigungen und Taufen gerufen. Häufig sind es die Beerdigungen von Soldaten. „Ich höre da immer wieder das Schreien und Weinen der Mütter und Frauen und Kinder. Das begleitet mich in meinen Träumen.“

Priester im Krieg: „Und wenn es einen Gott gibt, erfüllt sich dein Schicksal sowieso“

Manchmal erlebt auch Koskin Momente der Schwäche. Im Juni bittet er auf Facebook um Gebete und schreibt: „Ich bin irgendwie kaputt. Ich atme weiter, esse, schlafe, diene, bete… Aber ich will nicht mehr bequem oder perfekt sein, ich bin kaputt.“ Wenige Wochen zuvor ist sein bester Freund Maksim, der Patenonkel seines Sohnes, in der Schlacht um Marjinka im Osten gefallen. Als er den Anruf bekommt, in dem er vom Tod seines Freundes erfährt, bricht er zusammen. „Sie haben mir gesagt, ich hätte selbst geschrien, aber ich kann mich nicht erinnern. Die Erinnerung an diesen Moment ist dunkel“, sagt er.

Sein Glaube sei aber trotzdem stark geblieben, auch, weil seine Mitmenschen so stark seien. Kürzlich, erzählt er, sei er bei der Lesung einer ukrainischen Schriftstellerin gewesen, eine Band habe gespielt. „Als der Luftalarm kam, haben sie einfach weitergespielt, ein Lied aus dem Film Pretty Woman. Die Menschen haben keine Angst mehr. Und wenn es einen Gott gibt, erfüllt sich dein Schicksal sowieso, egal wo du bist.“ Er bete jeden Tag für den Sieg, sagt Koskin. Hat er auch für Jewgeni Prigoschin gebetet, den Wagner-Anführer, der den Aufstand gegen Putin wagte?

Koskin betet, dass die Russen nicht das Atomkraftwerk sprengen

Koskin atmet tief durch, bläst die Wangen auf, schüttelt den Kopf. „Ich musste jetzt kurz innehalten, weil ich ansonsten böse Schimpfwörte von mir gegeben hätte. Nein, jeder Diktator ist ein mieser Diktator. Ich habe nicht für Prigoschin gebetet.“ Aber er bete dafür, dass die Unruhen in Russland von den ukrainischen Streitkräften bei der Gegenoffensive genutzt werden können. Und dafür, dass die Russen nicht auf die Idee kommen, nach dem Kachowka-Staudamm auch das Atomkraftwerk Saporischschja zu sprengen. „Das wäre eine unvorstellbare Katastrophe.“

Ob er jemals wieder in seine Heimatstadt Mariupol zurückkehren wird, weiß Koskin nicht. „Meine Kirche hat für mich jetzt erst einmal etwas anderes vorgesehen.“ Einen Moment des puren Glücks hat er jedoch in den vergangenen Monaten auch erlebt. Sein Vater und die Eltern seiner Frau waren monatelang vermisst. „Jetzt wissen wir, dass sie an einem sicheren Ort sind und dafür danke ich Gott“, sagt der Priester und faltet seine Hände.

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