Oblast Donezk. Unsere Reporter treffen einen Scharfschützen. Wie viele Gegner er getötet hat, weiß er nicht – doch ein bestimmtes Erlebnis quält ihn.
Alpha hat nicht gezählt, wie viele Menschen er getötet hat. „Das brauche ich nicht. Das ist doch auch das Leben von jemandem“, sagt der Mann, der einmal Lehrer war. Jetzt ist er Scharfschütze an der Front bei Bachmut. Er nehme den Feind ins Visier, weil der Zerstörung, Gewalt und Mord über seine Heimat gebracht habe. „Wir schützen nur. Das ist alles.“ Bald wird Alpha noch mehr Menschen töten müssen oder vielleicht selbst getötet werden. Die Gegenoffensive der Ukrainer rollt an. Alpha wird dabei sein.
Ein kleines Dorf in der Region Donezk im Osten der Ukraine. Der Name des Dorfes darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden, es aber nicht weit entfernt von der Stadt Bachmut, die in den vergangenen Monaten zu einem Symbol der Grausamkeit des russischen Angriffskriegs geworden ist. Zehntausende Soldaten beider Seiten sind in der Schlacht um Bachmut gestorben, die Stadt selbst ist ausgelöscht. Luftaufnahmen zeigen eine Ruinenlandschaft, dem Erdboden gleichgemachte Häuser, zerschossene Wohnblocks.
Ukraine-Krieg: Die Waffen lehnen an den Wänden
In einem von den Besitzern verlassenen Wohnhaus haben sich Alpha und die anderen Männer seiner Einheit eingerichtet. Es ist ihr Ruhequartier. In den beiden Räumen stehen Munitionskisten, an den Wänden lehnen Waffen, Präzisionsgewehre ukrainischer und amerikanischer Bauart mit Visieren und Schalldämpfern. Auf einer Kiste liegt eine Barrett M82, ein schwarzes Monstrum, Kaliber .50 (12,7 Millimeter), genug, um Panzerungen zu durchschlagen. Die Luft ist abgestanden, auf einer Küchenzeile stapelt sich Geschirr.
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Alpha ist nicht der richtige Name des Mittdreißigers, so wird er über Funk genannt. Er hat dunkle, kurze Haare und lächelt oft und freundlich. In dem kleinen Dorf ist er erst seit Kurzem, er ist aus Bachmut gekommen, wo er in den vergangenen Wochen im Einsatz war. Die russischen Streitkräfte behaupten, die Stadt seit dem 20. Mai unter Kontrolle zu haben. Alpha sagt, er und seine Männer kämpften noch im Stadtgebiet. Sie zeigen auf ihren Mobiltelefonen Videos, die das beweisen sollen. Wann sie aufgenommen wurden, ist unklar.
Alpha hat sich freiwillig gemeldet, er ist Jäger
Vor dem Krieg in der Ukraine war Alpha zunächst Lehrer, dann war er Bauunternehmer. Er sei viel rumgekommen, erzählt er, er spricht ein paar Brocken Italienisch. Als der russische Überfall im vergangenen Februar beginnt, kehrt er nach Hause zurück, versucht verzweifelt zu seiner Familie zu gelangen, den Eltern, seiner Frau, den Kindern. Sie sind in den Gebieten im Nordosten, die in den Anfangstagen des Krieges von den Russen besetzt werden. „Ich wollte zu Fuß dahin gehen, aber sie haben an den Checkpoints nicht durchgelassen.“
Als er seine Familie nach dem russischen Rückzug aus dem Norden in Sicherheit weiß, meldet sich Alpha freiwillig. Er ist passionierter Jäger, er kann schießen. Er soll Scharfschütze werden. Sein Training dauert zehn Monate, mehr als vier Wochen wird er in einer Scharfschützenschule im polnischen Torun ausgebildet. Wer auf große Distanzen auf einen Feind schießt, muss viele Faktoren berücksichtigen. Der Wind, der Luftdruck, das Gewicht der Kugel, alles hat Einfluss auf die Flugbahn des Geschosses. In Städten verwirbelt der Wind zwischen den Gebäuden. „Manchmal muss man alles blitzschnell im Kopf berechnen.“
Manchmal ist er nur 80 Meter vom Feind entfernt
Nach dem Training geht es für Alpha nach Bachmut. Die Ausbildung, sagt Alpha, ist das eine. „Aber wenn man in Kampfhandlungen gerät und hört, wie alles fliegt, wie alles explodiert, dann ist das etwas anderes.“ Sie werden von russischer Artillerie und von Panzern aus Russland beschossen. Scharfschützen leben gefährlich. Bachmut, das sagen alle, die von dort lebendig zurückgekommen sind, ist die Hölle. „Es wurde um jede Straße gekämpft. Es wurde einfach von allen Seiten geschossen“, erzählt Alpha. Sie sind wochenlang in der Stadt, schlafen mit ihren Waffen, nehmen sie mit, wenn sie auf die Toilette gehen.
Die Männer müssen den Feind auf kurze Distanz bekämpfen, nicht wie es eigentlich für Scharfschützen üblich ist. Manchmal, erinnert sich Alpha, seien die gegnerischen Truppen nur achtzig Meter entfernt gewesen. „Du schießt, musst sofort deine Position verlassen, wieder schießen, wieder rennen. Einen solchen Nahkampf hat noch niemand erlebt.“ Die Männer wissen: Als Scharfschützen dürfen sie nicht gefangen genommen werden. Scharfschützen sind bei den gegnerischen Truppen verhasst, ihnen droht Folter. „Aufgeben ist für uns keine Option“, sagt Alpha.
Es leben noch Menschen in Bachmut
In dem Albtraum von Bachmut seien noch immer Zivilisten gefangen. „Ich habe eine Frau gesehen…“ Ihm stockt die Stimme, er hebt die Hand, winkt ab, als wolle er die Erinnerung wegwischen. Alpha spricht lieber über die Erfolge, die sie im Krieg erzielt haben. Darüber, wie sie im März eine Gruppe ukrainischer Infanteristen retteten, die in einem Waldstück mit ihrem Fahrzeug stecken geblieben waren und Gefahr liefen, von vierzig Russen umzingelt zu werden. Die Scharfschützen nehmen die Angreifer ins Visier. „Unsere Produktivität lag bei 16 oder 17 Personen“, sagt er. Die Ukrainer können sich in Sicherheit bringen.
Alpha spricht in einem verstörend technischen Jargon über das, was er an der Front tut. Es scheint eine Art Selbstschutz zu sein. Auf die Frage, was es mit ihm macht, wenn er einen Menschen in seinem Visier sieht und den Abzug drückt, neigt er den Kopf zur Seite, überlegt kurz. Anfangs, sagt er, hätte er gedacht, es könne ihn traumatisieren. „Aber wir haben all diese Aufnahmen im Fernsehen von den Toten, von unseren Leuten, die sie in Butscha oder Irpin getötet haben.“
„Vielleicht wäre es anders, wenn ich nicht für mein Zuhause kämpfen würde“
Sein Cousin ist vor drei Wochen ganz in der Nähe bei einem Kampfeinsatz ganz in der Nähe gestorben. „Sein Körper liegt im Niemandsland und kann nicht geborgen werden.“ Er ringt mit den Worten. „Vielleicht wäre es anders, wenn ich nicht für mein Zuhause kämpfen würde, für meine Frau, meine Kinder meine Eltern. In diesem Krieg wird psychologisch vieles auf den Kopf gestellt.“
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Jetzt bereiten sich die Scharfschützen auf die ukrainische Gegenoffensive vor. In der Nähe des Dorfes liegt ihr Übungsplatz, dort ist das Gras übersät mit leeren Patronenhülsen. Alpha hofft auf den Erfolg der Gegenoffensive. An der nördlichen und südlichen Flanke von Bachmut rücken die ukrainischen Truppen schon seit Mitte Mai langsam vor. „Ich will, dass wir die Russen auf die Grenzen von 1991 zurückdrängen“, sagt er. Er hält das für möglich. „Es kann sein, dass es so etwas wie einen Dominoeffekt gibt. Eine Figur fällt und die ganze Front beginnt zu bröckeln.“ Der Erfolg hänge jetzt von jedem einzelnen Kämpfer ab.
Und wenn die Gegenoffensive gelingt? „Weißt du“, sagt Alpha, „ich möchte einfach nur zu einem friedlichen Leben zurückkehren. Nach dem Sieg nehme ich vielleicht meine Liebsten und dann fahren wir gemeinsam nach Portugal, an die Algarve.“ Der Scharfschütze lächelt, als erinnere er sich plötzlich die Zeiten, in denen er nicht gezwungen war, Menschen zu töten.
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |