Berlin. Spontangeburt nach nur 21 Wochen Schwangerschaft: Ihr Zwilling starb, doch Melina überlebte. Ihr Arzt erzählt, wie das Wunder gelang.
Es ist der wohl außergewöhnlichste Fall für Reinald Repp, Klinikleiter und Neonatologe der Kinderklinik in Fulda, den er als Mediziner bisher erlebt hat: Melina ist das früheste Frühchen in Europa, das überlebt hat. Und dass sie lebt, grenzt an ein Wunder.
Das heute fünf Jahre alte Mädchen kam in einer spontanen Hausgeburt als Zwilling extrem früh zur Welt – in der 21. Schwangerschaftswoche plus vier Tage. Ein Überleben schien unmöglich. Melinas Bruder verstarb kurz nach der Geburt, doch das Mädchen schaffte es. Im Interview erklärt Reinald Repp, wie er und sein Team um Melinas Leben kämpfen mussten.
Wie war es, mit einem so extremen Frühchen-Fall konfrontiert zu werden?
Reinald Repp: Als ich morgens um 7.30 Uhr auf die Frühgeborenen-Intensivstation kam, waren Melina und ihr Bruder gerade angekommen und wurden von Oberärzten über eine Mund-Nasenmaske beatmet. Herzschlag und Sauerstoffgehalt im Blut waren normal. Ich war erschrocken, wie unreif die Kinder aussahen. Haut und Gewebe an Armen und Beinen waren noch so durchsichtig, dass man die Schlagadern pulsieren sah.
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Frühgeburt: Melina hatte keine realistische Überlebenschance
Welche Maßnahmen wurden im Krankenhaus als erstes ergriffen?
Repp: Es war eine extreme Leistung des Rettungsdienstes, die zu Hause geborenen Kinder lebend in die Klinik zu bringen. Auf der Intensivstation wurden die Kinder unter Maskenbeatmung sofort in einen Inkubator mit 38 Grad Lufttemperatur und 80 Prozent Luftfeuchte gebracht, um ein Auskühlen der kleinen Körper zu vermeiden. Innerhalb von zwei bis drei Minuten waren die Sensoren zur Überwachung lebenswichtiger Funktionen angebracht und eine Blutgasanalyse durchgeführt. Alle lebenswichtigen Werte waren gut.
Die Kinder sind nach 21 Schwangerschaftswochen und vier Tagen auf die Welt gekommen, also noch vor vollendeter 22. Schwangerschaftswoche. Damit bestand nach den medizinischen Leitlinien keine realistische Überlebenschance. Innerhalb weniger Minuten mussten wir entscheiden, ob wir die lebenserhaltenden Maßnahmen fortsetzen oder beenden.
Wie sah Ihre Entscheidung aus?
Repp: Wir entschieden uns, die intensivmedizinische Behandlung fortzusetzen, zumindest so lange, bis wir mit den Eltern sprechen konnten. Der diensthabende Oberarzt, Dr. Sasaki, hat Melina intubiert und ich habe die weitere medizinische Versorgung mit Infusionskanülen und der Optimierung der Hochfrequenz-Oszillationsbeatmung übernommen.
Melinas Bruder starb leider. Die Eltern haben uns dann klar gesagt, dass wir für Melina alles medizinisch Mögliche tun sollen, nachdem wir sie über die hohen Risiken und die geringen Chancen aufgeklärt hatten.
Frühestes Frühchen Europas: Schwere Komplikationen befürchtet
Auf welche Herausforderungen stößt man bei der Behandlung eines so früh geborenen Kindes?
Repp: Sie können nur überleben, wenn über die Lunge genug Sauerstoff ins Blut kommt und das Kohlendioxid entfernt werden kann. Wenn ein Kind so extrem früh auf die Welt kommt wie Melina, sind die Lungenbläschen noch so klein, dass für die Sauerstoffaufnahme kaum genug Austauschfläche vorhanden ist. Außerdem sind die Lungenbläschen sehr klebrig und neigen zum Kollaps.
Aber auch wenn das gelingt, kann die extrem unreife Lunge durch die Beatmung so stark geschädigt werden, dass eine Entzündung die Lunge über Monate zerstört und die Kinder dann noch sterben können. Auch das Herz wird stark belastet, weil es das Blut durch das noch nicht richtig entwickelte Blutgefäßsystem der unreifen Lunge pumpen muss. Es kann jederzeit versagen.
In den ersten Lebenstagen können schwere Hirnblutungen auftreten, weil die noch stark wachsenden Blutgefäße im Gehirn keine eigene Durchblutungsregulation haben. Wenn solche Blutungen auftreten und Teile des Gehirns zerstören, wird oft nach intensiven Gesprächen mit den Eltern die medizinische Behandlung eingeschränkt, sodass die Kinder unter palliativer Therapie sterben können, ohne zu leiden. Es gibt viele weitere typische Komplikationen.
Eingriff rettete Rekord-Frühchen Melina vor dem Erblinden
Wie hoch schätzten Sie Melinas Überlebenschancen?
Repp: Wir hätten nach den medizinischen Leitlinien davon ausgehen müssen, dass Melina „bis auf Einzelfälle“ keine Überlebenschance hat. Aber genau dieser Einzelfall war bei uns schon eingetreten und Melina hatte die erste halbe Stunde ihres Lebens unter widrigsten Umständen gut überstanden.
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Welche besonderen Komplikationen traten bei Melina auf?
Repp: Melina hatte Probleme mit den Augen und der Lunge. Auf der Netzhaut der Augen sind die Blutgefäße bei so extrem früh geborenen Kindern noch voll im Wachstum. Durch höhere Sauerstoffkonzentrationen im Blut fangen sie an zu wuchern, teils in das Auge hinein. Es kann zu Blutungen kommen, Entzündungen, gar einer Ablösung der Netzhaut und im schlimmsten Fall zur Erblindung. Durch eine Laserbehandlung oder das Einspritzen eines Medikaments direkt ins Auge vor die Netzhaut kann dieser Prozess gestoppt werden. Bei Melina war das nötig. Sie muss nun eine stärkere Brille tragen.
Ihre Lunge war durch die intensive Beatmung geschädigt. Melina musste noch acht Monate länger in der Klinik bleiben, über die Zeit von viereinhalb Monaten hinaus, die sie zu früh geboren war. Zu Hause benötigte sie in den ersten Monaten im Schlaf noch eine Atemunterstützung. Seit einigen Jahren ist Melinas Atmung auch unter körperlicher Belastung stabil und sie kommt zunehmend besser zurecht, wenn sie einen Atemwegsinfekt bekommt.
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Wie wichtig ist die Bindung zwischen Eltern und Kind in einer solchen Situation?
Repp: Die Bindung ist extrem wichtig, wird aber durch die Situation der Frühgeburt sehr erschwert. Die Schwierigkeiten versuchen wir durch umfassendes Einbeziehen der Eltern in die Versorgung ihrer Kinder und Hautkontakt bei stundenlangem „Känguruhen“ auf der Brust der Eltern zu mindern.
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Welche Rolle spielte die Expertise Ihres Teams beim Überleben des Mädchens?
Repp: Damit so extrem früh geborene Kinder wie Melina überleben können, muss sehr vieles zusammenkommen. Vieles, was wir nicht beeinflussen können. Wir glauben, dass die optimale pflegerische und ärztliche Zusammenarbeit im Team für die Versorgung Frühgeborener wichtiger ist als die stete Einführung neuer Techniken.
Wir ernähren sie fast ausschließlich mit unbehandelter Muttermilch, verzichten weitestgehend auf zentrale venöse oder zentrale arterielle Gefäßkatheter, den Einsatz von Katecholaminen (darunter versteht man die Verbindungen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin; d. Red.) und setzen in der Beatmung bei Frühgeborenen durchgehend auf die Hochfrequenz-Oszillationsbeatmung. Vorgehensweisen, in denen wir uns vermutlich von den meisten anderen Perinatalzentren unterscheiden.
Frühgeborene benötigen noch jahrelang mehr Förderung
Wie schätzen Sie die langfristige Prognose für solch früh geborene Kinder ein?
Repp: Es gibt viele Untersuchungen weltweit. Sie zeigen, dass das Risiko für langfristige Beeinträchtigungen sehr deutlich ansteigt, je früher die Kinder zur Welt kommen. Dabei ist das Spektrum möglicher Beeinträchtigungen groß. Es kann sein, dass die Kinder nicht laufen oder sprechen lernen, wobei so schwere Folgen selten sind. Aber auch auf den ersten Blick weniger schwere Folgen der extremen Frühgeburt, wie Ess- und Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität können für die Kinder und ihre Familien belastend sein.
Unabhängig von der Schwangerschaftswoche gibt es viele Faktoren, die die Prognose beeinflussen. Die Kinder entwickeln sich besser, wenn keine Hirnblutungen aufgetreten sind und vor allem dann, wenn die Eltern ihre Kinder intensiv fördern. Überhaupt scheinen Frühgeborene viele Jahre lang noch mehr auf Förderung und emotionale Unterstützung angewiesen zu sein als reif geborene Kinder.
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Welche Meilensteine bei Melinas Entwicklung sind Ihnen besonders aufgefallen?
Repp: Eine umfassende Untersuchung in der Klinik wurde zuletzt im Alter von zwei Jahren durchgeführt. Damals war ihre Atmung noch nicht voll leistungsfähig und noch nicht vergleichbar mit einem gleichaltrigen Reifgeborenen. Sie hat sicher noch einiges aufzuholen, aber die wesentlichen Entwicklungsmeilensteine des Kleinkindesalters geschafft. Sie kann sprechen, gut laufen, sogar Roller fahren, ist feinmotorisch geschickt und an allem interessiert.
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