Berlin/Fulda. Melina kam mit nur 450 Gramm zur Welt – viel zu früh. Hier berichten ihre Eltern von den dramatischen ersten Lebensmonaten ihrer Tochter.

Für Melinas Eltern ging alles so unglaublich schnell. Es war doch erst die 21. Schwangerschaftswoche plus vier Tage – viel zu früh für Wehen. „Wir wussten gar nicht, was in diesem Moment passierte“, erinnert sich die Mutter an die bangen Stunden, in denen sie bei einer Hausgeburt Zwillinge zur Welt brachte. Einen Jungen und ein Mädchen, Melina.

Die Tatsache, dass die Kinder so früh zur Welt kamen, machte ein Überleben nahezu unmöglich. Das Mädchen hatte ein Geburtsgewicht von gerade einmal 450 Gramm und war erst knapp 25,5 Zentimeter groß. Damit ist sie ist das früheste Frühchen Europas, das überlebt hat. Ihr Zwillingsbruder überstand die Strapazen der viel zu frühen Geburt nicht.

Auch interessant

Doch Melina kämpfte sich ins Leben, ist heute fünf Jahre alt. Ihre Eltern berichteten dieser Redaktion von dem Kampf ihrer Tochter, einem Wunder der Medizin und ihren Gefühlen zwischen Trauer und Hoffnung – in einer Situation, die, wie sie selbst sagen, nicht hätte schlimmer sein können.

„Dass unsere Tochter um ihr Leben kämpfte, gab uns in diesem Moment selber Kraft“

Anzeichen für eine Früh- oder gar Fehlgeburt habe es keine gegeben, erzählt Melinas Mutter. „Die Schwangerschaft lief bis zu diesem Zeitpunkt normal“ – alle Voruntersuchungen seien unauffällig gewesen. Aufgrund einer vorangegangenen Fehlgeburt bestand allerdings ein generelles Risiko für eine Frühgeburt. Und dann musste es schnell gehen.

Mit zwei Rettungswagen ging es auf schnellstem Wege in die Kinderklinik Fulda, die über ein Perinatalzentrum verfügt. Ein großes Glück, denn dort ist man auf die Versorgung von Frühgeborenen spezialisiert. „In meinen Gedanken hatte ich nur gebetet, dass sie überlebten“, erinnert sich die Mutter. Doch im Krankenhaus angekommen, erfuhren sie und ihr Mann das Schlimmste: Ihr Sohn hatte zu viel Blut verloren, er konnte nicht gerettet werden. „Wir waren am Boden zerstört“, berichten die Eltern. „Diese Angst, der Frust, die Wut … wie kann das alles nur möglich sein“, dieser eine Gedanke habe sie gequält.

Lesen Sie hier: Stillen: Charlotte stillt ihren Sohn (3) noch immer – Ärztin mit klarer Aussage

Doch es gab auch einen Hoffnungsschimmer: Melina lebte. Das kleine Mädchen lag auf der Frühgeborenenintensivstation in einem Inkubator, einer Art Brutkasten, bei 38 Grad Lufttemperatur und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, um ein Auskühlen ihres Körpers zu verhindern. „Dass unsere Tochter noch um ihr Leben kämpfte, gab uns in diesem Moment selber die Kraft auch weiterzukämpfen“, erinnert sich die Mutter nur allzu gut.

Geboren in der 21. SSW: Melina hatte „keine realistische Möglichkeit“ zu überleben

Reinald Repp, Klinikleiter der Kinderklinik in Fulda und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, der sich unter anderem auf Neonatologie (die Behandlung von Neu- und Frühgeborenen) spezialisiert hat, betreute die junge Familie. Und musste gleich zu Beginn eine schwere Nachricht überbringen: Es gab kaum Überlebenschancen. Die Zwillinge waren noch vor der vollendeten 22. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen, so Repp. Nach den aktuellen medizinischen Leitlinien habe deshalb – bis auf Einzelfälle – keine realistische Möglichkeit bestanden, solch frühgeborene Kinder am Leben zu halten.

Reinald Repp, Klinikleiter und Neonatologe der Kinderklinik in Fulda
Reinald Repp, Klinikleiter und Neonatologe der Kinderklinik in Fulda, hat Melina von den ersten Stunden ihres Lebens an betreut. © privat | Privat

„Innerhalb weniger Minuten mussten wir uns entscheiden, ob wir die lebenserhaltenden Maßnahmen fortsetzen oder beenden sollten“, berichtet der Mediziner dieser Redaktion. Die Entscheidung lag bei Melinas Eltern. Für ihren Zwillingsbruder war es zu spät, aber seine Schwester wollte leben – das wussten sie: „Unsere Tochter zeigte uns vom ersten Moment an, dass sie eine Kämpferin ist und das hat uns Mut gegeben, mit ihr gemeinsam zu kämpfen.“

Erste Tage sind entscheidend: „Man muss auf alles gefasst sein“

Besonders die ersten Tage seien kritisch gewesen, erinnert sich Melinas Mutter: „Man musste auf alles gefasst sein.“ Die Organe von so extremen Frühchen sind noch stark unterentwickelt, erklärt Experte Reinald Repp. Die winzigen Lungen sind kaum belastungsfähig und neigen zum Kollaps, weil die Lungenbläschen noch sehr klebrig sind.

Und damit nicht genug: Weil die Blutgefäße im Gehirn noch keine Durchblutungsregulation haben, ist das Risiko für Hirnblutungen in den ersten Lebenstagen erhöht. „Wenn solche Blutungen auftreten und Teile des Gehirns zerstören, wird oft nach intensiven Gesprächen mit den Eltern die medizinische Behandlung eingeschränkt, sodass die Kinder unter palliativer Therapie sterben können, ohne zu leiden“, so der Arzt.

Melina drohte die Erblindung, doch ein Eingriff rettete ihr Augenlicht

Die Liste der Gefahren, die frühgeborene Kinder in den ersten Lebenstagen und -wochen durchstehen müssen, ist noch deutlich länger. Melina hatte in vielerlei Hinsicht eine ordentliche Portion Glück, den Willen zu überleben und ein Team um sich herum, das für sie gekämpft hat.

Auch interessant

Komplikationen gab es trotzdem: „Bei Melina traten Probleme mit den Augen und der Lunge auf“, erinnert sich der Neonatologe. Das sei ein häufiges Problem bei Frühgeborenen: Die Blutgefäße der Augen können wild wuchern, weil sich durch die Beatmung die Sauerstoffkonzentration im Blut erhöht. Im schlimmsten Fall erblindet das Kind. Durch eine Laserbehandlung oder das Einspritzen eines Medikaments direkt ins Auge vor die Netzhaut, kann dieser Prozess allerdings gestoppt werden, erklärt Repp. Dieser Eingriff rettete Melinas Augenlicht. Sie muss nun lediglich eine stärkere Brille tragen.

Melina ist mittlerweile fünf Jahre alt und liebt es, Fahrrad zu fahren.
Melina ist mittlerweile fünf Jahre alt und liebt es, Fahrrad zu fahren. © Privat | Privat

Durch die mehrwöchige intensive Beatmung waren Melinas Lungen außerdem stark geschädigt. Deshalb verbrachte sie nach den viereinhalb Monaten, die sie zu früh geboren war, noch weitere acht Monate in der Kinderklinik. Auch zu Hause benötigte das kleine Mädchen noch für einige Zeit Atemunterstützung in der Nacht.

Die größte Herausforderung für die Eltern: Nicht die Hoffnung verlieren

Melinas Eltern haben die ersten Meilensteine in der Entwicklung ihrer Tochter immer noch klar vor Augen – „als sie angefangen hatte, selbstständig zu atmen und, als wir nach über einem Jahr gemeinsam als Familie nach Hause gehen durften.“ Die absolut größte Herausforderung in dieser schweren Zeit im Krankenhaus sei es gewesen, „jeden Tag nicht die Kraft und die Hoffnung zu verlieren“.

Heute beschreiben die Eltern Melina als aufgeweckt und fröhlich: „Sie lacht viel und ist sehr neugierig. Sie mag es, Roller zu fahren und auf den Spielplatz zu gehen.“ Ihre große Leidenschaft sei das Singen und Ukulele spielen – „auf ihre Art und Weise“, fügt Melinas Mutter mit einem Augenzwinkern hinzu. Die Fünfjährige geht gerne in den Kindergarten und entwickelt sich gut, aber sie hat eben noch einige Hürden zu meistern.

Das könnte Sie interessieren: Beziehung & Familie: Überforderter Vater – „Bin an meinen Ansprüchen gescheitert“

„Natürlich ist der Alltag auch von Therapien (Logopädie, Ergotherapie und Arztbesuche) geprägt und sie benötigt in allen Dingen eine deutlich höhere Aufmerksamkeit und Unterstützung“, so die Mutter, „aber unsere Tochter zeigt uns täglich, dass sich dieser Weg gelohnt hat und dafür sind wir sehr dankbar.“