Berlin. Tom und Bill Kaulitz überraschen in ihrer Netflix-Doku mit ihren unterschiedlichen Charakteren. Ein Experte erklärt, wie Zwillinge ticken.
Dasselbe Lächeln, dieselben Locken: Eineiige Zwillinge sind sich bekanntlich zum Verwechseln ähnlich und betonen diese optische Gleichheit gerne. Die Kaulitz-Brüder Tom und Bill (34) von der Kultband „Tokio Hotel“ würde kaum einer verwechseln, weil beide unverkennbar anders ticken und dies auch mit ihren unterschiedlichen Kleidungsstilen und Frisuren betonen. In der aktuellen Netflix-Doku „Kaulitz & Kaulitz“ wird das besonders deutlich.
Für den Achtteiler, der in einer Art Reality-Show exklusive Einblicke in das Leben des berühmten Duos in Los Angeles gibt, wurden die Magdeburger acht Monate lang mit der Kamera begleitet – beim Shoppen, auf Mottopartys, beim Kater-Waffelfrühstück oder beim Arzt. Was ins Auge sticht, ist, wie unterschiedlich die beiden Zwillinge auftreten.
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Kaulitz-Brüder: Jeder Zwilling macht andere Erfahrungen
Der Eine, Sänger und Frontmann Bill, macht mit Vorliebe auf extrovertierte Partymaus, der andere, Tom, lässt gerne den bodenständigen Familienmenschen heraushängen. „Ein Spießerleben – nur ein bisschen bigger“, beschreibt Bill das Leben seines Bruders. Paradiesvogel contra Stubenhocker. Während Bill noch den Mann fürs Leben sucht, hat Tom mit Ehefrau Heidi Klum (51) sein Glück gefunden. Martin Diewald, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Bielefeld und einer der Leiter der deutschlandweiten „TwinLife“-Studie, erklärt, warum sich auch eineiige Zwillinge unterscheiden können.
Herr Diewald, eineiige Zwillinge gelten als genetisch identisch. Auch wenn Studien herausgefunden haben, dass es Unterschiede im genetischen Material gibt, sehen sich die Kinder so ähnlich, dass sie oft verwechselt werden. Aber was ist mit ihrem Charakter? Kann es sein, dass ein Zwilling ganz anders denkt, liebt und handelt als der andere? Wir erfahren zum Beispiel jetzt in der Netflix-Doku über die Kaulitz-Brüder, dass sie viel unterscheidet. Wie ist das zu erklären?
Martin Diewald: Nun, das hat damit zu tun, dass sich der Charakter über die Erfahrungen ausbildet. Also darüber, was die Kinder erlebt und wie sie es erlebt haben.
Aber Zwillinge wachsen doch im selben Umfeld auf. Wie sollen sie da unterschiedliche Erfahrungen machen?
Diewald: Sicher machen Zwillinge deutlich ähnlichere Erfahrungen als Kinder, die Jahre auseinander sind. Da hat sich die familiäre Umgebung ja häufig stark gewandelt. Aber die Erfahrung von Zwillingen ist auch keinesfalls identisch. Nehmen wir nur einmal dieses Beispiel: Die Kinder sind zusammen im Sommercamp und machen eine Kanu-Tour. Sie sitzen aber nicht im gleichen Kanu. Bei dem einen Kanu läuft alles glatt, das andere aber kentert. Und dieser Zwilling gerät unter das Boot, bekommt keine Luft. Das heißt: Das eine Kind hat ein Hurra-Erlebnis, das andere aber erlebt ein Trauma.
Zwillingsforscher: Diese Studie hat ihn selbst überrascht
So in der Art können sich dann Situationen im gesamten Leben abspielen?
Diewald: Ja, so ist es in vielen Lebenssituationen. Wobei es auch so ist: Gleiche Situationen werden häufig anders interpretiert. Das haben wir in einer Studie herausgefunden. Da ging es um die sogenannte Chaos-Skala, wie Zwillinge das Familienleben zu Hause wahrgenommen haben. Da kam es zu großen Unterschieden, die hatte ich in diesem Ausmaß nicht erwartet. Was die einen als Lärm empfunden haben, war für die anderen reine Harmonie.
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Die Umwelt beeinflusst die persönliche Erfahrung. Können Einflüsse von außen noch tiefer greifende Wirkung haben?
Diewald: Ja, und zwar bis hin auf die genetische Ebene. Man spricht dabei von Epigenetik. Diese hat gezeigt, dass durch gewisse Umwelteinflüsse bestimmte Erbanlagen im Körper an- und auch abgeschaltet werden können. Und zwar schon im Mutterleib.
Können sich die Gene durch Umwelteinflüsse auch im Laufe des späteren Lebens verändern und damit unser Verhalten?
Diewald: Natürlich. Dann kommt es auch zur Veränderung der menschlichen Eigenschaften, was die Unterschiede zwischen den Zwillingen noch verstärkt. Der Lebensstil wirkt sich zwar nicht direkt auf unsere Gene aus, aber auf die Wirkung der Gene. Ganz genau.
Experte klärt über die sexuelle Ausrichtung von Zwillingen auf
Also kann sich ein Zwilling bei komplett anderem Lebensstil auch ganz anders entwickeln und auch anders aussehen? Einer wird dick, der andere nicht?
Diewald: Ganz krasse Unterschiede dürften selten sein, aber gut sichtbare Unterschiede definitiv.
Aber dass sich einer zum Muffelkopf, der andere zur Frohnatur entwickelt, das könnte es geben?
Diewald: Ja, es kann durchaus so sein, dass ein Kind sich eher zurückhaltend, das andere eher extrovertiert zeigt.
Und wie ist es mit der sexuellen Orientierung? Ein Zwilling ist hetero, einer homosexuell. Entscheidet sich das, wie es in Studien heißt, schon im Mutterleib?
Diewald: Ja, genau, so ist es. Diese Möglichkeit ist auch für genetisch identische Zwillinge belegt.
Was passiert dabei im Mutterleib?
Diewald: Man vermutet unterschiedliche hormonelle Einflüsse als Ursache. Manchmal reifen auch identische Zwillinge nicht an der gleichen Plazenta heran, sondern zwei unterschiedlichen. Und da ist es nicht gesagt, dass die hormonellen Einflüsse gleich sind.
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Dass Zwillinge gleich aussehen, hat also im Grunde nicht viel zu bedeuten. Dabei haben sie doch fast 100 Prozent identische Gene. Sollte man da nicht mehr an Ähnlichkeit auf Charakterebene erwarten können?
Diewald: Eineiige Zwillinge sind im Durchschnitt schon deutlich ähnlicher als zweieiige Zwillinge oder „normale“ Geschwister, aber eben nur im Durchschnitt. Das ist ja das Spannende. Alles ist einfach noch nicht entschlüsselt. Bei „normalen“ Geschwistern, die sich das Genmaterial zu etwa fünfzig Prozent teilen, ist es ja auch so, dass sich manche sehr ähneln, und andere überhaupt nicht.
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Zwillinge wie die Kaulitz-Brüder versuchen ihre Individualität sichtbar zu machen. Ist das die Regel?
Diewald: Zunächst werden die Kleinen ja oft noch durch die Eltern gleich gekleidet und somit die Ähnlichkeit unterstrichen. Aber oft schlägt das dann ins Gegenteil um, und die Kinder beginnen schon in der Schule damit, den individuellen Unterschied herauszuheben. Das wird von den Pädagogen häufig auch unterstützt. Es handelt sich ja um zwei Menschen, nicht um einen.