Berlin. Laut einer aktuellen Studie geht es Einzelkindern psychisch besser als Geschwisterkindern. Ein Experte steht dem kritisch gegenüber.
Geschwister sind gut für die Seele. Sie verstehen und unterstützen einander, bewältigen Konflikte und gehen Kompromisse ein. Das ist eine weitverbreitete Annahme. Doch stimmt das wirklich? Eine aktuelle Studie von Douglas B. Downey und Rui Cao der Ohio State University kommt zum gegenteiligen Ergebnis: Jugendliche mit zwei und mehr Geschwistern haben im Vergleich zu Altersgenossen, die entweder nur ein Geschwisterkind oder gar keines haben, vermehrt depressive Symptome oder Ängste.
Untersucht wurden 9400 chinesische Achtklässler und 9100 gleichaltrige US-Amerikaner, die durchschnittlich 14 Jahre alt waren. Den Schülerinnen und Schülern wurden Fragebögen ausgeteilt, um ihren mentalen Gesundheitszustand zu bewerten. Ein Drittel der untersuchten chinesischen Jugendlichen bestand aus Einzelkindern, hingegen hatten nur 12,6 Prozent der amerikanischen Kinder keine Geschwister. Diese Tatsache führten die Wissenschaftler auf die Ein-Kind-Politik in China zurück.
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Geschwisterkindern mit größerem Altersunterschied ging es mental besser
Die Forschenden fanden heraus, dass es in China denjenigen am besten ging, die keine Geschwister hatten. Ähnlich war es in den USA. Hier erging es den Kindern ohne oder mit einem Geschwisterkind am besten. Egal ob Halb- oder Vollgeschwister – beide hatten einen negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit.
Jedoch spiele der Altersunterschied der Geschwister eine entscheidende Rolle. Je kleiner der Altersunterschied zwischen den Geschwistern war, desto schlechter ging es ihnen. Geschwistern mit größerem Altersunterschied ging es besser.
Douglas B. Downey und Rui Cao stützten sich in ihrer Studie auf die Ressourcenverteilungshypothese. Die besagt, dass Geschwister um die Ressourcen der Eltern konkurrieren würden. Die elterlichen Ressourcen seien endlich. Das würde bedeuten: Je mehr Kinder es in einer Familie gibt, desto weniger Aufmerksamkeit und Zuwendung stehen jedem Kind zur Verfügung. Geschwister mit geringem Altersabstand zueinander würden stärker darum konkurrieren.
Stephan Sting, Professor für Sozialpädagogik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, steht dieser Hypothese kritisch gegenüber. „Das unterschätzt die Ressourcen, die Geschwister füreinander mitbringen. Der Blick ist nur auf die Eltern gerichtet, als würden nur Eltern Ressourcen verteilen“, sagte er unserer Redaktion.
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Deshalb können sich Geschwister auch positiv beeinflussen
Sting hat selbst Geschwisterbeziehungen in schwierigen Familienverhältnissen untersucht. In seiner Studie forschte er zu Kindern, die außerhalb der Familie in Fremdunterbringungen aufgewachsen sind. Hier hätte sich gezeigt, dass die Beziehungen zwischen den Geschwisterkindern extrem positiv seien. „Gerade wenn Eltern Kindern keine Unterstützung bieten, sind Geschwister füreinander sehr wichtig“, so Sting.
Es gibt einige weitere Studien, die den positiven Einfluss von Geschwistern bestätigen: 2022 fand ein Leipziger Forschungsteam um Gunda Herberth heraus, dass Kinder mit älteren Geschwistern seltener Verhaltensprobleme hätten. Auch Douglas B. Downey und Rui Cao betonen in ihrer aktuellen Studie der Ohio State University nicht nur den negativen Einfluss von Geschwistern. Ebenso schreiben die beiden, dass sich Geschwister positiv auf die Entwicklung von sozialen Kompetenzen auswirken können. Das hätte auch Einfluss auf spätere Partnerschaften. Außerdem ließen sich Kinder mit Geschwistern seltener scheiden.
Diese Punkte machen das Ergebnis der Studie weniger eindeutig
Ob viele Geschwister wirklich depressive Symptome und Ängste verursachen, kann anhand der aktuellen Studie nicht wirklich belegt werden. Es konnte lediglich ein Zusammenhang zwischen der Anzahl der Geschwister und der seelischen Gesundheit gemessen werden. Die beiden Forschenden Douglas B. Downey und Rui Cao führen selbst einige Punkte auf, die das Ergebnis ihrer Studie relativieren. Denn es gibt noch andere Faktoren, die die Qualität der Geschwisterbeziehungen und damit die mentale Gesundheit beeinflussen. Die Anzahl der Geschwister sei laut Sting nicht unbedingt die eigentliche Ursache des Problems, sondern die sozialen Verhältnisse, unter denen die Kinder aufwachsen. Familien mit mehr Kindern hätten tendenziell weniger Geld und Ressourcen.
„Geschwister müssten oft in einem Zimmer aufwachsen, was auch psychisch belastend sein kann“, sagt Sting. Sozial besser gestellte Familien hätten eher die Möglichkeit, den Bedürfnissen der Kinder nachzugehen. Die beiden Forschenden der Ohio State University schreiben selbst, sie haben den Einfluss des sozialen Status möglicherweise nicht vollständig erfasst.
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Ein weiterer Punkt, der das Ergebnis relativiert ist, dass in der Studie die Qualität der Geschwisterbeziehungen nicht gemessen wurde. „Es könnte sein, dass es viele positive Geschwisterbeziehungen gibt, jedoch drücken ein paar gravierende negative Fälle den Durchschnitt“, sagt er.
Jugendliche distanzieren sich häufig von ihren Geschwistern
Die Wissenschaftler fokussierten sich bei der Untersuchung außerdem auf das Jugendalter, nicht auf die Kindheit und auch nicht auf erwachsene Geschwister. Geschwisterbeziehungen würden laut Sting u-förmig verlaufen. In der Kindheit seien Geschwister recht eng verbunden und hätten häufig ein gutes Verhältnis. „Ab dem Jugendalter schwindet der Kontakt. Im jungen und mittleren Erwachsenenalter ist der Kontakt zum Teil relativ gering. Und im höheren Alter intensiviert er sich wieder“, so Sting. Jugendliche gingen zu ihrer Familie und ihren Geschwistern eher auf Distanz und suchten Zusammenhalt vor allem im Freundeskreis. Das könnte ein Grund dafür sein, wieso sich Jugendliche negativer gegenüber ihren Geschwistern äußern.
Es sind noch weitere Forschungsarbeiten notwendig, um abschließend festzustellen, ob viele Geschwister wirklich die Ursache für eine schlechte mentale Gesundheit sind. Denn wie oben aufgelistet gibt es andere Faktoren, die Einfluss auf den seelischen Zustand von Kindern und Jugendlichen haben. Wahrscheinlich spielt auch die Qualität der Geschwisterbeziehung eine wichtige Rolle, ob diese als belastend angesehen wird oder nicht. So haben einige Studien bereits deutlich gemacht, dass ein gutes Verhältnis Geschwisterkinder psychisch stärken kann – speziell in Krisensituationen.
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