Berlin. Untersuchungen deuten auf steinzeitlichen Kannibalismus hin. Neben Spuren von Werkzeugen entdeckten Forscher Hinweise auf Löwenbisse.
Kannibalismus könnte Teil des frühmenschlichen Lebens gewesen sein. Das legen neue Ergebnisse einer Untersuchung an einem steinzeitlichen Skelett nahe. Eine US-amerikanische Gruppe von Forschern identifizierte Spuren eines Schneidewerkzeugs an einem 1,45 Millionen Jahre alten Schienbein. Eigentlich hatten die Wissenschaftler mithilfe von 3D-Analysen nach Spuren von tierischen Angriffen gesucht.
In der Tierwelt ist Kannibalismus keine Seltenheit. Bekannt ist, dass Eisbären, Eidechsen, Bienen oder Schlangen ihre Artgenossen verspeisen. Auf der Suche nach Bissspuren an menschlichen Fossilien durch Raubtiere wurden Paläoanthropologen nun doppelt fündig. Indizien auf eine Löwenattacke lieferte der versteinerte Schienbeinknochen eines kenianischen Homininen. Die Fossilien, die aus Koobi Fora am Turkana-See stammen, wiesen aber noch menschliche Spuren auf. Untersuchungsleiterin Briana Pobiner vom renommierten Smithsonian Insititute in Washington bezeichnete diese als "eindeutigen Beweis für eine Schlachtung".
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Forscherin spricht von "Schlachtung": Kannibalismus in der Steinzeit
Dass Hominine, also eine dem modernen Homo Sapiens anverwandte Spezies, ihre Artgenossen oder nahe Verwandten verspeisten, galt bereits bei mehreren Arten als erwiesen. Die europäischen Arten Neandertaler und Homo antecessor gelten beispielsweise als opportunistische Kannibalen, die in Zeiten knapper Nahrungsbestände Artgenossen aßen. Die im ärchäologischen Fachblatt "Scientific Report" veröffentlichte Entdeckung bezeichnete das Forscherteam als "älteste menschliche Schlachtungsspur" unterhalb des Schädelknochens.
Auch das eigentliche Ziel der Untersuchung, Angriffsspuren von Raubtieren zu ermitteln, gelang der Forschergruppe. Anhand von 3D-Abbildungen verglichen die Forscher Verletzungen menschlicher Fossilien aus dem Bestand des kenianischen Nationalmuseums in Nairobi mit einer Datenbank aus Biss-, Trampel- und Schnittspuren. Dabei wurden am selben Knochen zwei konkrete Hinweise auf Attacken durch Großkatzen offenbar, die wahrscheinlich einem Löwen oder Säbelzahntiger zuzuordnen sind. Neun Spuren deuten aber auf menschliche Einwirkung hin.
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Schneidewerkzeug und Bissspuren: Tod durch Mensch oder Raubtier?
"Die V-Form und ihre gerade Richtung sind starke Hinweise dafür, dass es sich um Schnittspuren handelt", erklärte Erstautorin Pobiner, die sich auf vorzeitliche Ernährung spezialisiert hat. Gezielte Schnitte, quer zum Knochen, wurden auch auf zahlreichen Fossilien geschlachteter Tiere identifiziert. "Ich habe viele Spuren von Werkzeugen an tierischen Fossilien aus dieser Region und Epoche gesehen und dachte: Wow, ich weiß definitiv, was das ist", sagte Pobiner dem "Smithsonianmag". Die Schnittspuren konnten demnach eindeutig einem Steinwerkzeug zugeordnet werden. Forschungsleiterin Pobiner erscheint es "sehr wahrscheinlich", dass das Fleisch zum Verzehr und nicht zu rituellen Zwecken vom Schienbein abgetrennt wurde.
Restzweifel ob es sich bei den Schnittspuren tatsächlich um Beweise für Kannibalismus handelt, bleiben dennoch. Weil weder das 1970 in Ostafrika entdeckte Schienbein einen eindeutigen Rückschluss auf die Spezies zulässt, noch der Verursacher der Schnitte identifiziert werden konnte, lässt sich die Frage wohl nie vollends beantworten. Sicher ist laut der spanischen Paläoanthropologin Palmira Saladié Ballesté, dass der Fund "zumindest das Entfleischen eines technologisch fortschrittlichen Homininen durch einen anderen technologisch Fortschrittlichen" beweist. "Aus der Perspektive könnte man von Kannibalismus sprechen."
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Schlechte Nährwerte: Menschen sind kein gutes Opfer
Unklar ist auch, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Gewalteinwirkungen auf den vormenschlichen Knochen zustande gekommen sind. In einem möglichen Szenario könnte das Opfer von einem Raubtier gerissen worden sein, bevor sich Homininen die Beute zu eigen gemacht haben. Denkbar wäre auch, dass das Fossil Zeugnis eines kannibalistischen Mordes ist und die Knochen erst danach von Aasfressern verwertet wurden.
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Wahrscheinlich ist laut einer Studie von 2017, dass der Mensch wohl bei keiner Spezies besonders hoch auf der Speiseliste stand. So ermittelte Archäologe James Cole von der Universität Brighton einen überraschend geringen Nährwert des menschlichen Proteins. Der Aufwand einen Menschen zu jagen, steht demnach in keinem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag. Der Homo sapiens und seine Verwandten dürften demnach nur in Zeiten von Hunger oder zu rituellen Zwecken zum Verzehr ins Visier geraten sein.
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