Berlin. Seit Jahrtausenden glaubt die Mehrheit: Es gibt nur zwei Geschlechter. Göttinger Forschende bringen diese Gewissheit nun ins Wanken.
Wieviele Geschlechter gibt es? Auch im Jahr 2023 dürfte die Antwort einer Mehrheit der Menschen wohl lauten: Es gibt zwei Geschlechter, Mann und Frau. Das, so darf die Antwort weiter angenommen werden, war schon immer so, seit Urzeiten. Ein drittes, non-binäres, Geschlecht, bei dem sich Menschen vereinfacht gesagt als "weder noch, dazwischen oder außerhalb" der binären Geschlechterordnung identifizieren, gibt es nicht, hat es auch nie gegeben.
Dem dürften nicht nur zahlreiche non-binäre Menschen weltweit widersprechen, auch verschiedene Forschungszweige stellen die vermeintliche Gewissheit von der binären Geschlechterordnung in Frage. So etwa Forschende der Universität Göttingen, die in archäologischen Ausgrabungen in Mitteleuropa, insbesondere in Deutschland, Hinweise suchten, ob sich schon Menschen der Jungsteinzeit (bis 2200 v. Chr.), und Bronzezeit (bis 1200 v. Chr.) als non-binär identifiziert haben könnten?
Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unlängst im Universitätsverlag der britischen Universität Cambridge, Cambrigde University Press.
Biologisches und soziales Geschlecht stimmen nicht immer überein
Um eine Antwort auf ihre Fragen zu bekommen, untersuchten die Forschenden aus Niedersachsen Gräber aus dem gut 4000 Jahre umspannenden Zeitraum auf Hinweise auf das biologische und soziale Geschlecht der Toten.
Ersteres wird in der Archäologie üblichweise anhand der Skelette ermittelt, vor allem der Beckenknochen dient hier als ein zuverlässiges Geschlechtsmerkmal. Forschende betrachten hier vor allem die sogenannte Breite der großen Ischiaskerbe und das Schambein. Je nach Erhaltungszustand lässt sich relativ sicher sagen, ob dieser einer biologischen Frau oder einem biologischen Mann gehörte.
Etwas komplizierter wird es beim sozialen Geschlecht einer Person. Darunter wird gemeinhin die vom biologischen Geschlecht bestimmte Rolle eines Menschen in einer Gesellschaft verstanden, also etwa die Einteilung in kriegerisch-jagende Männer und fürsorgend-sammelnde Frauen.
"Viele Menschen gehen davon aus, dass die beiden biologischen Geschlechter zwei soziale Geschlechter hervorbringen", erklärte die Universität Göttingen. "Betrachtet man jedoch das biologische und das soziale Geschlecht getrennt, gibt es mindestens vier mögliche Kombinationen." In vielen Fällen stimme das biologische nicht mit dem sozialen Geschlecht überein, so die Forschenden nach Untersuchung von über 1252 Individuen.
So dürften Frauen etwa sehr wohl auch auf die Jagd gegangen sein, während Männer Feuer in Gang hielten oder den Nachwuchs hüteten. Entsprechende Hinweise liefern etwa Überreste eines Jägers aus den Anden, der nach wissenschaftlichem Dafürhalten eine Frau war, also eine Jägerin.
Soziales Geschlecht oft fließend: Grabbeigaben liefern Anhaltspunkte
Um das soziale Geschlecht eines Toten etwa aus der Bronzezeit zu bestimmen, untersuchten die Göttinger die Grabbeigaben. Stark vereinfacht gesagt, leiteten sie dieses so ab: Männer bekommen Waffen ins Grab, Frauen hingegen Schmuck. Wo Knochen auf einen Mann hindeuteten, Schmuck aber auf eine Frau, da nahmen die Forschenden ein drittes Geschlecht an, und umgekehrt. Die Göttinger ermittelten dann, wie oft die Daten zum biologischen und sozialen Geschlecht übereinstimmten und wie oft nicht.
Das Ergebnis der Untersuchung: Die gesellschaftliche Rolle eines Individuums war mehrheitlich von dessen biologischen Geschlecht bestimmt – allerdings keineswegs ausschließlich. Das biologische und soziale Geschlecht konnte nur bei etwa 30 Prozent der untersuchten Individuen bestimmt werden. 10 Prozent der Individuen entsprechen den Daten nach nicht der "binären Norm".
"Die Zahlen sagen uns, dass wir nicht-binäre Personen historisch gesehen nicht als Ausnahmen von einer Regel betrachten können", erklärt Eleonore Pape. Sie hat die Forschung an der Universität Göttingen durchgeführt und arbeitet nun am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. "Wir sollten sie eher als Minderheiten begreifen, die unter Umständen formal anerkannt, geschützt und sogar verehrt werden konnten", teilt sie in einer Presseaussendung mit.
In der Studie heißt es dazu: "Die mögliche Existenz einer non-binären Minderheit in der späten Frühgeschichte Europas ermutigt zu Überlegungen, was eine Abweichung von der binären Geschlechterordnung für unser Verständnis dieser prähistorischen europäischen Gesellschaften bedeuten könnte."
Denn: Die von den Forschenden als non-binär identifizierten Toten scheinen von ihren Mitmenschen nicht als Ausnahmen behandelt worden zu sein, sondern wurden im Gegenteil entlang üblicher Riten bestattet. Ihre Grabbeigaben lassen zumindest keinen anderen Schluss zu; Waffen die bei biologischen Männern gefunden wurden unterscheiden sich nicht von denen, die biologischen Frauen ins Grab gelegt wurden.
In anderen Worten: Dies könnte bedeuten, dass non-binäre Menschen für frühgeschichtliche Europäer ein gewöhnlicher Anblick waren.
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Studie nicht eindeutig: Ergebnisse mit Interpretationsspielraum
Allerdings schränken die Forschenden ihre Ergebnisse ein: Es seien keine Hinweise darauf gefunden worden, dass die Identität eines Individuums selbst gewählt war. Vielmehr könnte diese der Person schon zu Lebzeiten von ihren Mitmenschen zugeschrieben worden sein, spätestens aber im Tod. Über die Gründe für ein solches mögliches Handeln verlieren die Forschenden kein Wort.
Nicola Ialongo vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen fügt hinzu, dass die Schlüsse aus Grabbeigaben auf die Existenz frühgeschichtlicher non-binärer Menschen nur eine der möglichen Interpretationen sei.
"Zum jetzigen Zeitpunkt können wir die tatsächliche Größenordnung noch nicht abschätzen. Das liegt nicht nur an der Fehleranfälligkeit der Methoden, zum Beispiel bei der Untersuchung der Knochen. Wir müssen auch den Bestätigungsfehler berücksichtigen: Wir Menschen neigen dazu, das zu finden, was wir finden wollen."
Zukünftig sollen biomolekulare Analysen, zum Beispiel an der DNA und an Proteinen im Zahnschmelz, zusätzliche Daten liefern.