Berlin. Tine S. und Alex S. sind ein Paar und haben Sex mit anderen. Dabei kann auch Liebe im Spiel sein. Ihre Beziehung funktioniert dennoch.

Nur 25 Prozent der Deutschen glauben, dass der Mensch von Natur aus monogam ist – trotzdem haben sich bisher nur vier Prozent der Frauen und sieben Prozent der Männer an eine offene Beziehung – oder sogar eine offene Ehe – herangetraut.

Tine S. und Alex S. sind seit sechseinhalb Jahren ein Paar und wollen heiraten. Vor drei Jahren schlug die 32-Jährige, die als Lebenscoach in Ludwigshafen arbeitet, vor, ihre Beziehung zu öffnen. Seitdem haben sie nicht nur Sex mit anderen Menschen, sondern lieben auch mehrgleisig. Wie kann das klappen? Das erzählen die beiden im Interview.

Wie kam es, dass Sie Ihre Beziehung geöffnet haben?

Tine S.: In all meinen bisherigen Beziehungen habe ich früher oder später eine Person kennengelernt, die ich interessant fand. Das war super frustrierend, weil ich mich für eine schlechte Freundin hielt und meine Beziehungen angezweifelt habe. Gleichzeitig fand ich es schade, die Kontakte blocken zu müssen, weil ich vergeben war. Als Alex und ich drei Jahre zusammen waren, habe ich mich genauer mit dem Thema auseinandergesetzt und gemerkt: Das kann es nicht sein. Es ist doch eine super schöne Erfahrung, jemanden kennenzulernen, der dich flasht. In Beziehungen heißt es oft: Du gehörst jetzt mir und ich gehöre dir. Das fand ich für mich nicht mehr stimmig. Ich will niemandem gehören und mir soll auch niemand gehören. Das kann unheimlich Druck in eine Beziehung bringen. Ich finde die Vorstellung, dass eine einzelne Person 40 Jahre alle Bedürfnisse befriedigen soll, super unrealistisch. Also habe ich Alex auf eine offene Beziehung angesprochen.

Monogamie vs. offene Ehe: „So werde ich auf Dauer nicht glücklich“

Alex, wie war das für Sie?

Alex S.: Am Anfang hatte ich dem Thema gegenüber eine eher ablehnende Haltung. Ich konnte mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in diese doppelte Lage hineinversetzen: Meine Sorgen waren sehr groß. Ganz oben stand die Verlustangst: Was ist, wenn der andere "besser" ist? Zusätzlich kam noch ein Teilen-Problem dazu, da man am Anfang doch dazu neigt, seine Freundin sehr egoistisch für sich beanspruchen zu wollen.

In vielen Gesprächen mit Tine bin ich dem Thema irgendwann näher gekommen und diese beiden Punkte haben sich im Laufe der Zeit komplett gelegt. Das lag sicherlich auch daran, dass wir das Thema von Anfang an sehr offen angegangen sind.

Tine, wie sind Sie mit Alex' Ängsten umgegangen?

Tine S.: Ich habe ihm erklärt, dass ich seine Ängste total nachvollziehen kann, aber merke, dass ich mir ein Leben in Monogamie nicht vorstellen kann. Und so werde ich auf Dauer auch nicht glücklich. Er sollte sich überlegen, ob er mich wirklich als Partnerin möchte oder ob es ihm nur um die Vorstellung einer vermeintlich perfekten Beziehung geht. Ich glaube, es ist ganz wichtig, sich an diesem Punkt einer Beziehung die Frage zu stellen, ob es wirklich darum geht, frei leben zu wollen, oder ob die Beziehung kaputt ist. Da muss man genau hinschauen und reflektieren. Für mich war damals klar, dass ich meinen Partner liebe. Dementsprechend deutlich konnte ich das auch kommunizieren.

Hatten Sie denn auch selbst Ängste?

Tine S.: In Beziehungen geht es viel um das eigene Ego. Wir Menschen fühlen uns super schnell angegriffen und abgelehnt. Wenn ich aber an dem Punkt bin, dass ich mich sicher fühle und das Gefühl habe, bei meinem Partner gut aufgehoben zu sein und bedingungslos geliebt zu werden, kann mir nichts passieren. Ich glaube, es war für uns beide wichtig, dass ich dieses Urvertrauen mitgebracht habe und keine Zweifel hatte.

Sie heiraten dieses Jahr. Wie kann eine offene Ehe klappen?

Tine S.: Mit viel Kommunikation, einem Regelwerk und Akzeptanz dem anderen gegenüber. Man muss sich selbst und das Konzept immer mal wieder reflektieren und schauen, ob es Dinge gibt, die man anpassen sollte. Wir Menschen sind nicht statisch. Wir entwickeln uns weiter. Deswegen ist es wichtig, miteinander zu sprechen und kein Thema unter den Tisch zu kehren.

Alex S.: Die Ehe ist ein Vertrag, den wir miteinander schließen. Er ändert jedoch nichts an den Regeln und an dem Spielraum, den wir in Bezug auf andere haben.

Offene Beziehung: Tine und Alex haben eine „goldene Regel“

Warum braucht es Regeln und welche gibt es in Ihrer Beziehung?

Alex S.: Sobald man andere Personen in seinen Beziehungsbereich holt, gibt es viele Punkte und Ecken, die für den anderen Partner verletzend sein können. Man wird in seiner Gefühlswelt schon ein wenig durchgeschleudert. Obwohl wir nicht viele Regeln haben, sind uns einige schon wichtig: Wir sind immer offen zueinander, wen wir kennenlernen. Wir reden darüber, gehen dabei jedoch nicht übertrieben ins Detail. Der andere weiß immer, wo man sich befindet, wenn man unterwegs ist – einfach für den Fall der Fälle. Außerdem kommunizieren wir, wie stark die Gefühle für den zweiten Partner sind. Unsere goldene Regel ist aber, dass unser gemeinsames Bett für andere absolut tabu ist.

Tine S.: Ich finde es gut, im Kontakt zu bleiben und den anderen regelmäßig zu fragen, wie es ihm aktuell mit der Situation geht. Für uns war es zum Beispiel ein Thema, wie viel Kontakt wir miteinander haben, wenn einer von uns woanders übernachtet. Also habe ich Alex gefragt: Ist es dir wichtig zu wissen, dass ich gut angekommen bin? Ist es dir wichtig, dass ich dir zwischendurch ein kurzes Feedback gebe, dass alles in Ordnung ist? Eine offene Beziehung oder Polyamorie sollte auf keinen Fall bedeuten, egoistisch sein Ding durchzuziehen. Wir sind ja trotzdem in einer Beziehung und wollen einander nicht wehtun. Ich glaube, jedes Pärchen muss für sich gucken, wie viel Sicherheit es braucht.

Tine, Sie führen mittlerweile eine zweite Beziehung. War von Anfang an klar, dass es bei Ihnen um mehr als Sex geht?

Tine S.: Ich bin nicht der Typ für einmalige Geschichten. Deswegen habe ich von Anfang an gesagt, dass eine offene Beziehung für mich auch bedeutet, dass es vielleicht Personen geben wird, die ich öfter treffen und es passieren kann, dass ich mich verliebe. Mein zweiter Partner und ich haben sehr schnell gespürt, dass wir gut miteinander viben und zwischen uns mehr ist. Das habe ich zuhause auch so kommuniziert und lebe seitdem glücklich in dieser Dreierkonstellation.

Alex S.: Am Anfang hätte es mir ausgereicht, nur Sex mit anderen zu haben. Je tiefer ich in das Thema eingestiegen bin, desto mehr war ich bereit, Gefühle zuzulassen und auch längere Bindungen zu haben. Aktuell läuft das eher auf einer freundschaftlichen Ebene ab.

Tine S.: Das Schöne ist: Es gibt keine Begrenzungen. Alex kann auch mit einer Frau schöne Sachen machen – abseits von sexuellen Erfahrungen. Und wenn sich Gefühle auftun, dann freue ich mich für ihn. Aber auch das muss jedes Paar individuell miteinander vereinbaren.

Wie läuft das logistisch ab?

Alex S.: Wir haben feste Tage in der Woche definiert, an denen Tine bei ihrem zweiten Partner ist, die natürlich auch flexibel angepasst werden können. Wenn noch eine dritte Person oder einmalige Treffen dazukommen, sprechen wir darüber und legen einen weiteren Tag fest.

„In vielen offenen Beziehungen gibt es emotionalen Betrug“

Gibt es in einer offenen Beziehung Betrug?

Tine S.: In vielen offenen Beziehungen gibt es emotionalen Betrug. Das heißt: Sie haben ausgemacht, dass es nur um Sex geht, aber es hat sich mehr entwickelt. Mit Alex spreche ich immer sehr offen darüber, mit wem wir uns wie oft treffen und wie fest die Sache ist. Mit meinem anderen Partner war ich bis vor Kurzem in unserer Konstellation monogam. Deswegen haben wir immer gesagt: Wenn einer von uns merkt, dass er Interesse hat, jemanden kennenzulernen, dann teilen wir uns das vorher mit. Würde er mir nicht sagen, dass er sich mit jemandem trifft, fände ich das zwar komisch, es wäre aber kein Betrug. Ich fände es genauso komisch, wenn er plötzlich schreiben würde: Ich bin übrigens vorhin nach Holland gefahren. Dann ginge es eher darum, dass er mich nicht an seinem Tag teilhaben lässt. Die Absprachen, die wir haben, haben ja einen Sinn. Und das Ganze funktioniert nur mit gegenseitigem Respekt. Und Respekt bedeutet auch darüber zu sprechen, wenn sich eine Regel nicht mehr passend anfühlt.

Alex S.: Betrug im klassischen Beziehungsrahmen gibt es für uns nicht. Wir würden es eher als Betrug ansehen, wenn man sich nicht an die vereinbarten Regeln hält.

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    Was ist die größte Herausforderung innerhalb einer offenen Beziehung?

    Tine S.: Die eigenen Gefühle. Die eigene Wertigkeit, die man oft in Frage stellt. Wir Menschen vergleichen uns unheimlich schnell. Dann sehen wir eine Person, die vielleicht besser aussieht, cooler ist, einen besseren Job hat oder mehr Geld und schon fühlen wir uns nicht mehr gut genug. Für mich ist es deshalb die größte Hürde, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und zu merken, wenn es gerade am Selbstwert hapert.

    Alex S.: Das Aufbringen des nötigen Vertrauens dem Partner gegenüber und die Akzeptanz für sich selbst, dass eine Beziehung nicht immer "klassisch" sein muss.

    Wie wichtig ist es, dass eine offene Beziehung vorab gefestigt ist?

    Alex S.: Ich finde eine gute Basis durchaus wichtig. Wir waren einige Jahre zusammen, bevor wir diesen Schritt gegangen sind. Sicher gibt es Paare, die das auch schneller durchziehen können, aber eine feste Basis kann auftretende Schwierigkeiten eher abfedern.

    Tine S.: Ich glaube, man braucht ein gutes Grundvertrauen ineinander. Viele Paare öffnen die Beziehung, nachdem einer fremdgegangen ist. Ich glaube, das funktioniert nicht, weil bereits zu viel Vertrauen verloren gegangen ist – und dieses Vertrauen brauchst du einfach in einer offenen Beziehung.

    Dieser Artikel erschien zuerst am 12.1.2023