Siegen. Ein außergewöhnliches Gedenkkonzert am Jahrestag der Bombardierung Siegens setzt den musikalischen Schlusspunkt unter das Jubiläum „800 Jahre Siegen“.

Schon der Aufmarsch der Akteure dauert gefühlte fünf Minuten. 170 Sängerinnen und Sänger der Kantorei Siegen, des Bach-Chores Siegen, des Philharmonischen Chores, des Kammerchors Weidenau, die rund 60 Musikerinnen und Musiker der Philharmonie Südwestfalen und vier Solisten wollen auf der riesigen Bühne der Siegerlandhalle ihren Platz finden. Ihr zufriedener Blick auf die fast vollen Stuhlreihen zeigt: Die Befürchtungen von Skeptikern, dass sich an diesem nasskalten 16. Dezember die Zahl der Akteure auf der Bühne und der Zuhörer im Saal die Waage halten könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Gut für alle und eine Bestätigung für die Organisatoren, den 80. Jahrestag der Bombardierung Siegens punktgenau an diesem Montagabend zu begehen.

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„Für uns schließt sich heute ein Kreis“, sagt Bürgermeister Steffen Mues zur Begrüßung. Der habe mit dem Konzert zum Auftakt des 800. Stadtjubiläums Siegens im Januar begonnen und werde nun zum 80. Jahrestag der Zerstörung Siegens musikalisch beendet. „Siegen wurde am 16. Dezember 1944 zu 80 Prozent zerstört, 348 Menschen verloren im Flammeninferno ihr Leben.“ Das Stadtoberhaupt kündigt ein Konzert an, das von tiefer Trauer, aber auch von Versöhnung, Hoffnung und Zuversicht geprägt ist. Und er behält Recht: Eine Kombination der Werke von Mozart, Britten, Brahms und Dvořák entwickelt sich zu einem musikalischen Geniestreich, den es sicherlich so noch nie gegeben hat.

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Diese 90 Minuten beginnen mit Mozarts „Requiem“, seinem letzten Meisterwerk, das er aber nicht mehr vollenden konnte und das damit zu seiner eigenen Totenmesse wurde. Wenn dann 170 bestens vorbereitete Sängerinnen und Sänger etwa ihr „Dies Irae“ zornig herausschleudern, entstehen Gänsehaut-Momente. Es verbietet sich, dabei von „Stimmgewalt“ zu sprechen. Gutes Singen ist nie Gewalt, sondern Innigkeit und Gefühl, und diese Stimmschönheit schraubt sich von der Bühne bis in die letzten Winkel der Stahlkonstruktion hoch über der riesigen Halle. Klänge und Rhythmen, die dann beim „Kyrie“ leicht swingend und tänzerisch werden. Beeindruckend, wie sich die vier Chöre aus Siegen, die in dieser Formation noch nie gemeinsam gesungen haben, zu einer Einheit mit wunderbarem Stimmausgleich werden, der dann beim „Lacrimosa“ schon nach 8 Takten endet. Da nahm dem 35-jährigen Mozart am 5. Dezember 1791 der Tod die Komponistenfeder aus der Hand.

Die Melodie des Krieges

Der anschließende musikalische Szenenwechsel, abrupt durch gewaltige Paukenschläge eingeleitet und durch mystische Lichteffekte begleitet, hat etwas Filmreifes und zeigt, was in der Siegerlandhalle auch optisch geht. Benjamin Brittens Sinfonisches Requiem, ziemlich exakt 150 Jahre nach der Totenmesse Mozarts komponiert, zerstört alles Wohlklingende aus der Feder des ehemaligen Salzburger Wunderkinds. Nun dominieren Disharmonien, schrille Klänge, haben die vier Männer aus der Abteilung Perkussion alle Hände voll zu tun. Und natürlich auch Dirigent Constantin Trinks, der all die diffizilen, blitzschnell wechselnden Rhythmen mit Souveränität und Ruhe meistert, punktgenau jeden Einsatz gibt. (Mancher fragt sich: Gehört er auch zu den Kandidaten für den Posten des Chefdirigenten?) Benjamin Brittens Requiem ist nicht schön, kann und darf es auch nicht. Es die Melodie des Krieges, der Bombenabwürfe deutschen Flieger, die 1940 englische Städte in Schutt und Asche legten.

Berichte von Augenzeugen: Wie Siegen in Flammen aufging

Danach braucht es dringend ein musikalisches Seelenbad. Ein Werk von Johannes Brahms und das „Te Deum“ von Antonin Dvořák bringen schwungvoll, optimistisch von sanft bis hymnisch die musikalische Welt wieder in Ordnung. So wie vorher schon Helge Heynold, der als vierjähriger Junge die Angriffe auf Siegen miterlebte, mit unaufgeregt angenehmer Stimme Augenzeugen zitiert, aber vor allem die Entwicklung seiner Heimatstadt nach Krieg, Zerstörung und dem Abschied vom Bergbau bis zu einer lebendigen Großstadt skizziert.

Den Reigen der Beteiligten vervollständigen die Sopranistin Alexandra Lubchansky, die Mezzosopranistin Anna Werle, der Tenor Lianghua Gong und der Kölner Bassist Thomas Bonni. Sie überzeugen solistisch, passen aber stimmlich auch im Duett, Terzett und Quartett bestens zueinander. Der Tieftöner erweist sich auch daher als Glücksgriff, weil ihn Intendant Michael Nassauer und Orchesterwart Jens Schreiber kurzfristig noch am Freitagabend aus dem Hut zaubern mussten: Der angekündigte Bassist Aris Argiris war plötzlich erkrankt. 

Das Publikum an diesem Abend ist mit unterschiedlichsten Erwartungen in die Siegerlandhalle gekommen: Ehrengäste, weil sie eingeladen waren, Stadtverordnete, weil das Konzert Abschluss eines anstrengenden Tages war, Bürger, die dieses schrecklichen Tages vor 80 Jahren gedenken wollen, Musikfreunde, die ein außergewöhnliches Erlebnis erwarten. Sie alle verbindet eins: Totale Begeisterung über einen Abend, der allen im Saal und auf der Bühne noch lange in Erinnerung bleiben wird.

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