Siegen. Als die Nazis die Siegener Synagoge niederbrannten, verlor die Hausmeisterfamilie alles, was sie hatte. Die Familie Meyer floh nach Amerika.
Als Rüdiger Fries die Rekonstruktion der Siegener Synagoge als Modellbau vorbereitete und er zur Geschichte recherchierte, stieß er auf das Schicksal der jüdischen Familie Meyer.
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Richard Meyer, geboren am 11. Mai 1901 in Amsterdam, und seine Ehefrau Toni, geborene Hirsch, geboren am 5. Januar 1899 in Klein-Gerau bei Frankfurt am Main, wohnten mit ihrem vierjährigen Sohn Fred 1938 in der Hausmeisterwohnung der Siegener Synagoge am Obergraben. Richard Meyer, im Metzgergewerbe tätig, war Hausmeister der Synagoge. Fred, geboren am 23. Mai 1934 in Siegen, war nur wenige Monate älter als Rüdiger Fries‘ Bruder Klaus Heiner, der damals mit seinen Eltern Ruth und Wilhelm Fries und seiner kürzlich geborenen Schwester Rosemarie im Geschäftshaus der Familie Frank, Untere Friedrichstraße 8/1, in Weidenau wohnte. Am 10. November 1938 wurde die Familie Meyer aus ihrer Wohnung im Synagogengebäude vertrieben. Ihr gesamtes Hab und Gut wurde mit dem Brand der Synagoge vernichtet.
Flucht aus Siegen
Bei dem Brand der Synagoge wurde auch ein Wandschmuckbild der Familie Meyer zerstört. „Wandschmuckbilder mit Hinweisen auf die aufgehende Sonne beziehungsweise die östliche Himmelsrichtung befinden sich häufig in jüdischen Haushalten“, erklärt Rüdiger Fries. Sie werden nach der hebräischen Bezeichnung für Osten „Misrach“ genannt. Das Bild hing in der Wohnung der Meyers an einer nach Osten gerichteten Wand. Es gilt dabei, sich beim täglichen Gebet gen Osten zu richten, um des antiken Tempels zu gedenken und sich Jerusalem nahe zu fühlen.
Mittellos und zutiefst in ihrer Menschenwürde verletzt und gedemütigt zogen Richard und Toni mit ihrem Sohn Fred als Vertriebene durch die Stadt Siegen und fanden Zuflucht bei ihren Verwandten in der Wiesenstraße in der Nähe des Schlachthofes. Richards Vater, Emil Meyer, ursprünglich als Vieh- und Fellhändler tätig, arbeitete später als Metzger. Er war Besitzer des Hauses Wiesenstraße 22 (heute Nr. 26). Ehepaar Emil und Lina, geborene Levy, wurden im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie wurden am 15. Mai 1944 in Auschwitz ermordet.
Toni, Richard und Fred Meyer konnten Nazi-Deutschland rechtzeitig verlassen. Das Dampfschiff SS „President Harding“ brachte sie von Hamburg nach New York, wo sie am 4. Februar 1939 als Heimatvertriebene die Freiheitsstatue („Miss Liberty“) erblicken konnten.
„Wie gerne hätte ich Fred kennengelernt und ihm das Modell der Siegener Synagoge gezeigt.“
Spurensuche in New York
„Das weitere Lebensschicksal der Familie Meyer in den USA interessierte mich sehr“, erzählt Rüdiger Fries. Die Spurensuche führte ihn zunächst zu Michael Simonson, einem sehr freundlichen und hilfsbereiten Mitarbeiter des Leo-Baeck-Instituts in New York. Er konnte schließlich die Adresse von Fred Meyer in New York mitteilen. Fries schrieb ich einen Brief an Fred („Freddie“), der im New Yorker Bezirk Queens auf Long Island lebte. Der Brief kam allerdings einige Monate später ungeöffnet zurück: „return to sender“. Michael Simonson teilte schließlich mit, dass er über eine WhatsApp-Gruppe vom Ableben Fred Meyers erfahren hatte. Er war am 9. Juni 2017 in New York verstorben. „Ich war sehr traurig“, sagt Rüdiger Fries, „wie gerne hätte ich Fred kennengelernt und ihm das Modell der Siegener Synagoge gezeigt.“
Michael Simonson vermittelte den Kontakt zu William (Bill) Kugelman, einem Großcousin von Fred Meyer. Die Großmutter von William Kugelman, Augusta Hirsch, war eine Schwester von Toni, der Mutter Freds. Augusta Hirsch heiratete Willie Kugelmann (später William Kugelman), den Großvater von Bill Kugelman. Freds Mutter Toni Meyer war also eine Cousine von Bill Kugelman’s Vater. Von den sechs Töchtern der jüdischen Familie Hirsch aus Klein-Gerau konnten fünf rechtzeitig Deutschland verlassen. In Deutschland verblieb allein Schwester Jenny (geboren am 16. Dezember 1895), die Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurde. Jenny, verheiratete Lanemann, lebte mit ihrem Mann in Frankfurt am Main. Sie wurde nach Minsk deportiert und dort ermordet.
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Mit Bill Kugelman, wohnhaft in Hempstead, Long Island, nahm Rüdiger Fries zunächst auf dem Postweg Kontakt auf. Er sandte ihm ein Exemplar seiner Ausarbeitung „Die Rekonstruktion der Siegener Synagoge als Modellbau“. Nach einem anschließenden E-Mail-Austausch hörte Fries längere Zeit nichts mehr von Bill Kugelman. Dann erreichte ihn eine E-Mail seiner Schwester Wendy Schaffer. Als Nachfahren der jüdischen Familie Kugelmann aus Klein-Gerau wollten sie die Heimat ihrer Vorfahren bei einem Deutschland-Besuch aufsuchen. Geplant wurde ein Abstecher nach Siegen zur Besichtigung des Modells der Synagoge.
Besuch in Siegen
Am Unteren Schloss fand das Treffen nun statt. „Freudig begrüßten wir Ehepaar Wendy und Howard Schaffer aus Slingerland, einem Vorort von Albany im Bundesstaat New York, und Bill Kugelman sowie seine Partnerin Meri Schoen aus Hempstead, Long Island. Es waren sehr bewegende Momente“, berichtet Rüdiger Fries. Es wurden intensiv Familiengeschichten und Erinnerungen ausgetauscht. Die Gäste waren an der Geschichte Siegens interessiert. Als Dolmetscherinnen kamen Mareike Walkling und Hanna Hofheinz, beide Studentinnen der Universität Siegen, zum Einsatz.
Es ging zu den Rubens-Gemälden im Siegerlandmuseum und ins Schaubergwerk. Schließlich ins Aktive Museum, wo an ihre Siegener Vorfahren erinnert wird. Dort, wo Richard Meyer, Frau und Sohn im November 1938 aus ihrer Wohnung in der Synagoge vertrieben wurden, haben sich seine Nachfahren im Gästebuch verewigt. Dort, vor dem Bunker am Obergraben, findet am Sonntag, 10. November, 16 Uhr, die jährliche Gedenkveranstaltung statt.
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