Siegen/Jerusalem. Käthe Stern lebte ein glückliches Leben in Siegen. Sie liebte die Schule, die Natur, Schwimmen, hatte viele Freunde. Das alles endete abrupt.
Ihr Land ist nicht mehr wie es war. In Jerusalem herrsche relative Ruhe, berichtet Susan Caine der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (CJZ) in Siegen. Aber die Stadt, ganz Israel, sei meilenweit entfernt von der Normalität. Sie konnte nicht nach Deutschland reisen, um am Platz der Synagoge, am Gedenktag anlässlich der Reichspogromnacht 1938, an ihre Tante Käthe Stern zu erinnern, die vor den Nazis aus Siegen floh. Und sie wollte nicht nach Deutschland reisen, weil sie sich derzeit, da hier wieder antisemitische Parolen gebrüllt und sich in ihrer ganzen Ekelhaftigkeit in die Weiten der sogenannten „sozialen“ Netzwerke ergießen, da sich die Zahl der judenfeindlichen Vorfälle um hunderte Prozent erhöht hat, hier nicht sicher fühlt. „Erschütternd“ sei das, sagte Raimar Leng, evangelischer Vorsitzender der CJZ, bei der Gedenkveranstaltung vor hunderten Siegenern.
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Susan Caine ist nicht persönlich nach Siegen gekommen, hat aber ihre Gedanken in die Stadt gesendet, die dort vorgetragen wurden, wo die Geschichte der Synagoge mit ihrer Zerstörung nicht zu Ende sein sollte. Daran hatte Landrat Andreas Müller mit den Worten des Heimatpreisträgers Rüdiger Fries erinnert, der ein Modell des von den Nazis niedergebrannten Gotteshauses gebaut hat, das bald für die Öffentlichkeit zu sehen sein wird.
Hier sind, leicht redaktionell bearbeitet, die Worte von Susan Caine.
Liebe Freunde in Siegen, ich hatte gehofft, das Leben meiner Verwandten Käthe Stern, die am 27. Januar 1908 in Siegen geboren wurde, mit Ihnen teilen zu können. Als Schulmädchen glaube sie tatsächlich, dass der 27. Januar ein Nationalfeiertag sei, weil es ihr Geburtstag war, und war ziemlich überrascht zu erfahren, dass er auch des Kaisers war... Käthe hatte eine sehr glückliche Kindheit in Siegen. Sie hatte gute Freunde. Nach dem Krieg nahm sie den Kontakt zu zwei nichtjüdischen Freunden wieder auf und die drei lebten lange genug, um sich gegenseitig zu ihrem 100. Geburtstag zu gratulieren. Käthe liebte die Natur, die Schule, Schwimmen und Gymnastik. Sie war freundlich, gutmütig und wurde von allen sehr geliebt. Nur wenige in England konnten sich vorstellen, was sie im nationalsozialistischen Deutschland erlitten hatte.
Sie sprach nie über ihre Vergangenheit.
Im März 1939 nutzte Käthe nach langem Überlegen, Zögern und Bangen die Einladung meiner Großeltern, die gerade aus Hamburg nach London gekommen waren, als Haushälterin zu ihnen zu kommen. Dies war das einzige Einreisevisum für deutsche Juden, die nach der Pogromnacht unbedingt ausreisen wollten. Sie hoffte, von dort aus Visa für ihre Mutter, ihre Schwester und ihre vier Brüder zu bekommen, die in Siegen geblieben waren, um ihr nachzuziehen, aber das sollte nicht klappen. Sie wurden deportiert und ermordet. Käthe hat sie nie wieder gesehen. Zu den schmerzlichen Verlusten der Familie Stern kam noch hinzu, dass ein älterer Bruder im Ersten Weltkrieg im Kampf für Deutschland gestorben ist, ein anderer nahm sich kurz nach seiner Rückkehr von der Front das Leben. In der Tat, die ironische Tragödie des deutschen Judentums.
Angst vor der rasenden Hitlerjugend und den tobenden Nazi-Hooligans in Siegen
Ich fragte mich, wie ich mich fühlen würde, wenn ich an der Stelle stünde, an der Käthes Großvater einst stolz als Präsident der neu erbauten Synagoge im Jahr 1904 stand – die am 10. November 1938 bis auf die Grundmauern niedergebrannt wurde. Ich habe es versucht, sich den Schrecken vorzustellen, den Aufstieg der Nazis mitzuerleben. Die fehlgeleitete Vorstellung, dass Worte und Slogans nicht gefährlich sind. Die Angst vor der rasenden Hitlerjugend und den auf den Straßen tobenden Nazi-Hooligans. Die unaufhörliche Entmenschlichung und Dämonisierung der Juden, denen die Schuld für alles Böse und Elend auf der Welt gegeben wird. Die Hilflosigkeit angesichts eines unvorhersehbaren, aber drohenden Untergangs, der eine Minderheit allein deshalb treffen würde, weil sie Juden waren.
Vielleicht erzähle ich Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt die Geschichte von Käthes Leben nach ihrer Abreise aus Deutschland.
Heute, hier in Jerusalem, ist es schwierig, die Ereignisse um uns herum zu verstehen. Wir leben in einer Art surrealer Dämmerungszone. 90 Jahre später sind wir in unserem eigenen Land und in unseren Häusern erneut mit einer unvorstellbaren Bösartigkeit und Brutalität konfrontiert. Die Hamas hat wiederholt erklärt, dass ihr Ziel die Vernichtung Israels und der Juden sei. Sie verstecken sich nicht hinter Euphemismen oder Slogans. Ihre Botschaft ist klar. Sie haben am 7. Oktober in nur wenigen Stunden über 1400 unserer Leute mit unaussprechlicher Grausamkeit abgeschlachtet. Sie filmten die Ermordung, Vergewaltigung, Enthauptung und Verbrennung von Erwachsenen und Kindern und teilten sie in Echtzeit in den sozialen Medien.
Heute schweigt die Welt nicht. Wir sind ermutigt über die Unterstützung von Weltführern wie Ihrem Bundeskanzler Scholz, die den unterschied zwischen Gut und Böse kennen. Sie wissen, dass sie laut und deutlich sürechen müssen.
Unfassbare populistische Parolen - „wir wissen, wohin das führen wird“
Wir sind schockiert über die riesigen Demonstrationen auf den Straßen Deutschlands, Londons, New Yorks und anderer demokratischer Länder, bei denen Massen die Zerstörung Israels und der Juden fordern. Wir sind entsetzt über die Doppelmoral, die Versuche, die tatsächlichen Morde zu leugnen, zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, während wir die erschreckenden Rufe zur Ausrottung der Juden hören. Es sei „cool“, die Hamas zu unterstützen. Wie viele von ihnen verstehen wirklich ihre Botschaften, nicht nur für Israel, sondern für die gesamte westliche Welt, für unsere humanistischen Werte und für unsere demokratische Lebensweise?
Es ist unfassbar, dass heutzutage populistische Parolen zur Vernichtung der Juden gerufen werden. Wir wissen, wohin das führen wird.
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Am Jahrestag der Reichspogromnacht, dürfen wir nicht nur an die Siegener Juden und die sechs Millionen von den Nazis ermordeten Menschen erinnern. Wir müssen uns an unsere Verpflichtung erinnern, zu verhindern, dass böse, fanatische und ideologische Hetze erneut ihren hässlichen Kopf erhebt.
Nie wieder.