Siegen-Wittgenstein. Touristiker wollen sich nicht länger nur an Gäste aus den Niederlanden und dem Ruhrgebiet richten. Die wichtige Zielgruppe ist längst schon hier.
Beispiele? Daniel Letocha nennt das neue Regionale-Projekt „Go Si-Wi Go“, das in Freudenberg und Bad Berleburg gestartet wird, ein Zubringer-System für den öffentlichen Nahverkehr. „Es ist egal, wer diese Mobilität nutzt“, sagt der Geschäftsführer des Touristikverbandes Siegen-Wittgenstein (TVSW) , für Einheimische ist das genauso nützlich wie für Gäste. Oder die Wanderwege, die Gastronomie, die Events in Freizeit und Kultur: „Wer die Infrastruktur nutzt, ist zweitrangig.“ Die Netphener haben genauso viel von Wander- und Radwegen und Shuttlebussen wie die urlaubenden Niederländer, die Siegener genauso wie die Wochenendausflügler aus dem Ruhrgebiet. Entschleunigen, entspannen, Akkus aufladen wollen sie schließlich alle.
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Was alles in der Heimat steckt
Das in etwa ist gemeint, wenn vom „Lebensraummanagement“ gesprochen wird, um das sich die Touristiker künftig vordringlich kümmern sollen. Also Themen, die sich nicht nur an Gäste von auswärts, sondern auch an Einheimische richten. Beziehungsweise die, die es werden wollen. Denn mit guten Betreuungsangeboten für Kinder, attraktiven Arbeitsplätzen und bezahlbaren Immobilien kann es Siegen-Wittgenstein im Wettbewerb um Fachkräfte locker mit den Großstädten in den Ballungsräumen aufnehmen. „Weiche Standortfaktoren werden immer mehr zu harten Standortfaktoren.“
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Dazu kommt der neue Blick auf die Heimat, den die Menschen in der Corona-Pandemie zwangsläufig entwickelt und danach ziemlich gern behalten haben. „Die Leute entdecken das Schöne neu und wieder.“ Und davon gibt es hier viel, sagt Daniel Letocha, der immer noch auch mit dem Blick von außen („Den möchte ich gern möglichst lang behalten“) auf die Region schauen kann: Siegen, zum Beispiel, „ist eine saubere Stadt mit unglaublich hoher Aufenthaltsqualität.“ Stellt er fest, wenn er am Bahnhof aus dem Zug von Hennef aussteigt, von wo er seit 1. Februar nach Siegen pendelt, und zu Fuß zu seinem Büro geht.
Und er ist beeindruckt vom Gemeinschaftsgeist, wie ihn gerade wieder die Dorfgemeinschaften zeigen, die in den Kreiswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ einsteigen. „Der Mensch möchte nicht in einer anonymen Großstadt wohnen“, weiß Letocha, „es steckt tief in uns allen, dass wir diese Wurzeln haben möchten.“ In Köln haben sie dafür eben die Veedel, in Berlin die Kieze. Was da als Urban Gardening und Food-, Car- oder Sonstwas-Sharing erfunden wird, passiert auf dem Dorf längst auch, einfach so.
„Wir wollen neue Themen angehen. Wir haben den Anspruch, mitzugestalten und uns einzubringen.“
„Ein bisschen mehr Enthusiasmus“, glaubt Daniel Letocha, könnten die Einheimischen für ihre Heimat mit gutem Grund aufbringen. Die professionellen Touristiker haben das Werkzeug, dabei zu helfen: „Angebote mehr zeigen, erzählen, bündeln, weiterentwickeln.“ Dabei aber auch nichts schön reden, fügt er hinzu. Dass es vier Jahre gedauert hat, bis – in dieser Woche – der erste Trekkingplatz am Rothaarsteig eröffnet wird, sei berechtigter Grund für Unzufriedenheit. Auch, dass der Natursteig Sieg es in Niederschelden immer noch nicht über die Kreisgrenze geschafft hat. Der „Neue“, der die letzten 20 Jahre in Köln, unter anderem bei Kölntourismus, gearbeitet hat, will die Altlasten offenkundig schnell los werden. „Wir wollen neue Themen angehen. Wir haben den Anspruch, mitzugestalten und uns einzubringen.“ Die Ideen reichen von der Verzahnung mit den Events des Kulturbüros bis zu spirituellen Veranstaltungen in der Natur.
Was die Region bieten kann - und muss
Also kein Werben mehr um Urlaubsgäste für Siegen-Wittgenstein? „Nur von den Locals“, sagt Daniel Letocha und fällt dabei in die Touristiker-Fachsprache, „können wir nicht leben. Wir brauchen auch die Gäste von außerhalb.“ Am Tisch in den Cafés und Restaurants sind beide Gruppen gleichermaßen willkommen. Und beide, betont Daniel Letocha, haben dieselben Anforderungen. „Qualität ist wichtig, auch im Kleinen.“ Gäste wollen ihr Lokal im Internet finden. Und dann nicht anrufen oder eine Mail schreiben müssen, sondern online reservieren und buchen. „Marketingversprechen lösen wir am Ende nur über die Infrastruktur ein. Dreh- und Angelpunkt ist die Qualität.“
Der Geschäftsführer des Touristikverbandes wird sehr konkret: Dass es mit dem Waldland Hohenroth ein überaus attraktives Ausflugsziel an der Eisenstraße gebe, es aber nicht gelinge, das beliebte Café im ehemaligen Forsthaus wieder zu eröffnen, sei „total schade“. „Stärken sehe ich beim Rothaarsteig, den Premiumwanderwegen in Bad Berleburg, aber auch dem Flowtrail in Siegen“, sagt Daniel Letocha. „Die Landschaft im Kreisgebiet bietet Potenziale, die noch nicht voll gehoben sind, und ist zudem auch sehr attraktiv für Gravel-Biker. Aber auch kleine Perlen, wie im östlichen Wittgensteiner Land, wo es Orte ohne Lichtverschmutzung gibt, die ein idealer Ort für Astrofotografen sind“. Positiv seien Entwicklungen, mehr Wohnmobilstellplätze zu schaffen, zum Beispiel im Gambachtal bei Freudenberg, oder das Zentrum Via Adrina in Arfeld. Auch zu den beiden großen umstrittenen Projekten hat Letocha eine Meinung: Wisente und Nationalpark wären „herausragende touristische Attraktionen“.
Wie es weitergeht
Aber es läuft doch auch so, oder? Geschäftsreisende füllen die Zimmer in der Stadt, Angehörige von Klinikpatienten auf dem Land, für schlichte Ferienwohnungen finden sich immer Monteure, und wenn die ausbleiben, bringt die Stadt gern Flüchtlinge unter. „Die Rechnung geht so lange auf, wie der Monteur nicht in Rente geht“, erwidert Daniel Letocha. Und so lange die modernisierungsbedürftige Wohnung nicht den Erben ans Bein gehängt wird und für Gästeübernachtungen verloren geht.
Zur Person
Daniel Letocha (45) lebt mit seiner Familie in Hennef. Er ist ausgebildeter Reiseverkehrskaufmann, hat berufsbegleitend einen Bachelorstudiengang mit dem Schwerpunkt Betriebswirtschaft absolviert und hat in Köln unter anderem beim Musiksender VIVA, der europäischen Agentur für Luftsicherheit (EASA) und zuletzt zehn Jahre bei der offiziellen Tourismusorganisation der Stadt Köln, Kölntourismus, gearbeitet.
„Ich war hungrig auf etwas komplett Neues“, erklärt Letocha seinen Wechsel in den ländlichen Raum, „hier gibt es ganz andere Themenschwerpunkte.“ Seine Erfahrungen aus der Millionenstadt sollen dabei helfen: „Ich habe meinen Werkzeugkoffer gut gefüllt.“
Nach vorne schauen halt. „Ich freue mich, dass wir uns jetzt auf den Weg begeben“, sagt Daniel Letocha nach dem ersten Workshop mit Politik, Verwaltung, Veranstaltern und Akteuren wie der Südwestfalen-Agentur und dem Naturpark. „Es wird spannend, wie wir das ausgestalten.“ Schon in seiner nächsten Sitzung wird der für Tourismus zuständige Ausschuss des Kreistags das Startsignal für das neue „Lebensraummanagement“ geben. Danach atmet Letocha auch ein bisschen auf. Denn dass der Kreistag nur ein paar Tage nach seinem Dienstantritt das Budget für den Tourismus auf Null gesetzt hat, „hat mich kalt erwischt“, gibt er zu.
Vorbei. „Hier ist niemand gegen den Tourismus“, hat Daniel Letocha gelernt, „die Leute lieben ihre Heimat, sie brennen dafür.“ Wobei er weiß, dass die Messlatte für sein achtköpfiges Team nun hoch liegt: „Am Ende des Tages müssen wir im Stande sein zu kommunizieren, was tun wir hier, wann, wo und was ist der positive Output.“
Was die Politik jetzt tun soll
Dem Kreistag wird in seiner September-Sitzung empfohlen, seinen im Februar gefassten Beschluss zum Ausstieg aus der Finanzierung aufzuheben. Der Touristikverband soll „von einer reinen Marketing-Organisation hin zu einer Organisation für Tourismus-Management“ weiterentwickelt werden, mit dem Fokus auf Lebens- und Aufenthaltsqualität für Gäste und Einheimische. Langfristig strebt der Verband an, bis 2026 ein Konzept zur Weiterentwicklung hin zu einer Lebensraum-Management-Organisation vorzulegen.
Der TVSW plant eine verstärkte Kooperation zwischen Tourismus, Kultur, Wirtschaftsförderung und Regionalmarketing sowie Klimaschutz und Mobilität. Das Marketing wird stärker auf relevante Zielgruppen und Einheimische ausgerichtet. Das 50-jährige Kreis-Jubiläum 2025 wird genutzt, um die Sichtbarkeit der neuen Lebensraum-Perspektive zu erhöhen. Langfristig strebt der TVSW an, sich zu einer „Lebensraumorganisation“ weiterzuentwickeln.
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