Kreuztal. Der Kreuztaler Fritz Stein wird mit 38 Jahren in Auschwitz ermordet, weil er homosexuell war. Für ihn wird am Mittwoch ein Stolperstein gesetzt.
Fritz Stein wurde 38 Jahre alt. Am 31. März 1942 wird der gebürtige Kredenbacher in Auschwitz ermordet. In der handschriftlich geführten „Veränderungsmeldung“ dieses Tages steht vor der Häftlingsnummer nicht, wie bei den anderen 61 „Abgängen“, der Zusatz „Pole“ oder „Tscheche“. Der Häftling mit der Nummer 25182 ist „RD-§175“, „Reichsdeutscher“ also, der Opfer des Paragrafen 175 wird, mit dem Homosexuelle verfolgt wurden. Zu Hause erzählen sie später, er habe im KZ sterben müssen, weil er ein Kind mit einer jüdischen Frau gehabt habe.
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Annäherung: Ein zweiter Name aus Kredenbach
Jürgen Wenke ist über die Ortsbezeichnung „Kredenbach“ gestolpert. Erst vor gut fünf Jahren wurde in dem Kreuztaler Stadtteil ein Stolperstein für Alfred Freudenberg verlegt. Auch dessen Schicksal hat der Bochumer erforscht – wie das von inzwischen über 60 Männern, die wegen ihrer Homosexualität im Nazi-Regime ermordet wurden. In dem Buch, in dem Fritz Stein erwähnt wird, sind auch Fotos. Häftlingsfotos. „Sehr mager, aber ein stolzer, fast trotzig wirkender Blick“, schreibt Jürgen Wenke. Er nimmt den Kontakt nach Kreuztal wieder auf, zu Stadtarchivarin Ria Siewert. Und es gelingt ihm, mit zwei Verwandten von Fritz Stein in Verbindung zu treten. Zu Hans-Dieter Stähler, dem inzwischen 83-jährigen Neffen. Und zu Dorothee Stähler, dessen Tochter, die in München als Ärztin arbeitet. „Er hatte immer das Gefühl, dass da was ist“, berichtet sie über das Gespräch mit ihrem Vater, der seinen Onkel nie persönlich kennen gelernt hat.
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„Ich habe mich auf die Spurensuche begeben“, erzählt Jürgen Wenke. Und er hat Glück: „Es hat sich eine Tür nach der anderen geöffnet.“ Fritz Stein, so erkennt der Bochumer, war sein kurzes Leben lang unterwegs, möglicherweise auch immer auf der Suche nach einem Ort, an dem er schwul leben konnte – Kreuztal war das nicht. „Ich habe so viele Archive angeschrieben wie noch nie zuvor.“
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Ein Leben: Lehrerseminar in Hilchenbach und Wiesenbauschule in Siegen
Mit 24 Jahren meldet sich Fritz Stein nach Goslar in den Harz ab, 1927 kommt er aus Basel zurück nach Buschhütten, wohin die Familie 1913 von Kredenbach umgezogen ist, 1937 geht es weiter nach Hamm an der Sieg. Irgendwann vorher hat er das Lehrerseminar in Hilchenbach besucht – ein Foto mit ihm als Lehrer und einer Schulklasse haben die Nachkommen aufbewahrt. Kreisarchivar Thomas Wolf findet heraus, dass Fritz Stein auch die Wiesenbauschule in Siegen besucht hat. „Wenn Sie wünschen, daß ich noch mal zu Ihnen komme, so lassen Sie mich doch bitte die Zeit wissen, wann es Ihnen am besten paßt“, schreibt er dem „Herrn Direktor“, der ihn schließlich zu Ostern 1929 aufnimmt.
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Aus dem Archiv der Siegener Uni, Nachfolger der „Kulturbauschule“, kann Jürgen Wenke weiter rekonstruieren: dass Fritz Stein die Oberrealschule in Weidenau, das heutige Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium, besucht hat. Dass er ein Jahr im Baugeschäft von Josef Schmeck in Geisweid gearbeitet hat. Dass er 1932 die Prüfung zum Kulturbautechniker mit der Note „2“ bestanden hat. Im Schülerverzeichnis der Wiesenbauschule steht der Vermerk: „† 31.3.1942 in Oberschlesien“.
Viele Fotos haben die Nachkommen aufbewahrt. Sie zeigen ihn bei der Arbeit, beim Militär, in geselliger Runde – selten ist vermerkt, wo und wann die Bilder entstanden sind und wer darauf noch zu sehen ist. Vor zehn Jahren habe der Vater die alten Fotos einmal angeschaut, erzählt Dorothee Stähler. Gewusst habe man über den Onkel nicht viel. „Das war alles neu“, berichtet sie über die Erkenntnisse, die Jürgen Wenke der Familie übermittelt. Die Großmutter, also die Schwester von Fritz Stein, dürfte im Bilde gewesen sein, vermutet Dorothee Stähler – und das große Tabu aufrecht erhalten haben: „Das hat sie mit ins Grab genommen.“
Berufsverbot, Gefängnis, Konzentrationslager
1934 hat er in Seelow nördlich von Frankfurt/Oder gelebt, das weiß man aus der Heiratsurkunde seiner Schwester Katharina und ihres Ehemannes Emil Stähler, deren Trauzeuge er wird. Im Adressbuch der Stadt Wismar von 1939 ist der Eintrag bei der Straße Spiegelberg 54: „Stein, Fritz, Kulturbauingenieur.“ „Es gibt leider keine Akte“, sagt Jürgen Wenke, „ich habe auch keine Gefängniskarteikarte gefunden.“ Man weiß nicht, ob, wo und wie oft Fritz Stein wegen des Paragrafen 175 verurteilt worden ist, bevor er ins KZ verschleppt wurde. Vom 18. Oktober 1940 datiert das Schreiben des „Reichsverbandes Deutscher Ingenieure für Wasserwirtschaft und Kulturtechnik“, in dem diese der „Reichswaltung des NS-Bundes Deutscher Technik“ den Ausschluss ihres Mitgliedes Fritz Stein mitteilt, „wegen Vergehens gegen § 175“. Das ist das Berufsverbot. Anfang Januar 1942, vermutlich nach der Entlassung aus dem Gefängnis, wird Fritz Stein ins Hauptlager Auschwitz 1 deportiert.
Sterben: In der Familie lange Zeit ein Tabu
Aus der Geburtsurkunde von Fritz Stein im Stadtarchiv Kreuztal geht hervor, dass der Tod des Kreuztalers zwei Mal beurkundet wurde: 1942 beim Standesamt Auschwitz II, 1958 noch einmal im hessischen Arolsen. Denn als die Mutter von Fritz Stein 1957 in Buschhütten stirbt, benötigen die Kinder einen Erbschein – Dokumente aus Polen sind zu dieser Zeit nicht zu bekommen. Beim Sonderstandesamt Arolsen werden die Erkenntnisse des von Katharina Stähler eingeschalteten Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes vorgelegt: einschließlich der Inhaftierungsbescheinigung und dem Haftgrund „§ 175“.
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„Was ich wusste, wussten die alle nicht“, berichtet Jürgen Wenke von den Gesprächen mit den Nachkommen, die die weitere Erforschung des Lebensweges ihres Angehörigen aktiv unterstützen. In der Generation der Großeltern von Dorothee Stähler ist Homosexualität ein Tabu: „Darüber wurde nicht geredet“, weiß Jürgen Wenke auch aus vielen anderen Familien – entsprechend vorsichtig nähert er sich bei der ersten Kontaktaufnahme an. Auch in Kreuztal fühlt erst einmal die Stadtarchivarin vor. Am Telefon erzählt Hans-Dieter Stähler, der selbst Ingenieur wurde, dass er den – unbekannten – Onkel als Vorbild empfinde: jemand, der seinen Beruf mit Leib und Seele ausübte. Sie sei selbst erstaunt gewesen, wie stark ihr Vater Anteil am Schicksal des Onkels nimmt, erzählt Dorothee Stähler. Und findet das wichtig, wenigstens jetzt die Erinnerung an den Großonkel lebendig zu machen: „Es ist wichtig, dass nicht totgeschwiegen wird.“
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Stolperstein: Mittwoch in Wismar
Dorothee und Hans-Dieter Stähler werden am Mittwoch, 9. November, dabei sein, wenn Gunter Demnig den Stolperstein für Fritz Stein in Wismar, Spiegelberg 54, verlegt. Die Patenschaft hat Ministerpräsidentin Manuela Schwesig übernommen.
Die Recherche: Jürgen Wenke erforscht Lebenswege
Seit 2006 erforscht der Bochumer Psychologe Jürgen Wenke die Schicksale homosexueller Männer im Nationalsozialismus. Auf seiner Seite www.stolpersteine-homosexuelle.de sind bis jetzt 62 Recherchen veröffentlicht, die zur Verlegung von Stolpersteinen geführt haben. Anders als bei jüdische Opfern, deren Namen zentral gesammelt wurden, und anders auch als bei von den Nazis ermordeten Kommunisten und Sozialdemokraten sind die Namen homosexueller Opfer nur schwer herauszufinden. „Das ist nicht aufgearbeitet", sagt Jürgen Wenke. Aus Dachau gab es eine Liste der dort ermordeten Homosexuellen, die Unterlagen aus Auschwitz wurden dagegen vernichtet – der Name von Fritz Stein steht in einer Liste mit den Namen von 136 Männern, die für das Buch „Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten“ recherchiert worden war. In Hamburg wurden bisher rund 300 Stolpersteine für Homosexuelle gesetzt, in Nordrhein-Westfalen erst um die 80. „Es könnten auch 1000 sein“, sagt Jürgen Wenke.
Verfolgung ging in der Bundesrepublik weiter
Manchmal kann Jürgen Wenke Licht in die Lebensumstände der Verfolgten bringen – wie zum Beispiel des Schauspielers Kurt Brüssow, der Auschwitz überlebt hat. Oder über Ernst August Papies, der nach der Befreiung aus dem KZ Mauthausen in Konstanz lebte. „Das war ein Mann, der das nicht verleugnet hat“, berichtet Jürgen Wenke. Dessen vergebliches Kämpfen im Wiedergutmachung macht deutlich, wie nahtlos die Verfolgung Homosexueller in der Bundesrepublik fortgesetzt wurde. „Die überlebenden Opfer wurden erneut stigmatisiert“, stellt Jürgen Wenke fest, „Adenauer hat sie jeglicher Hoffnung beraubt.“
Heinrich Wahle war Lehrer in Bochum, er wurde im KZ Sachsenhausen erschossen. Sein 1944 geborener Neffe ist ebenfalls schwul, 1961 wurde er festgenommen. Der Eintrag ins polizeiliche Führungszeugnis führt dazu, dass der Elektriker nur noch schlecht bezahlte Jobs bekam. „Immerhin hat er jetzt ein paar hundert Euro Entschädigung bekommen“, berichtet Jürgen Wenke, der den Kontakt zu dem Mann weiter hält. 1994 wurde der Paragraf 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. 2017 beschloss der Bundestag die Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 verurteilten Männer.
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