Siegen. Die von den Nazis zerstörte Siegener Synagoge kehrt an den Obergraben zurück – virtuell und für einen Abend. Es geht um Erinnerung und Hoffnung.

Die Synagoge, 1938 von den Nazis zerstört, wird ins Siegener Stadtbild zurückkehren. Zunächst nur für einen Abend und nur virtuell – aber nicht nur zur Erinnerung an die Verbrechen des Regimes, sondern vor allem, um den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft zu richten. Am Dienstag, 9. November, wird das Gebäude von 18 bis 21.30 Uhr auf die Außenmauer des Bunkers am Obergraben projiziert. Der steht nämlich heute auf dem ehemaligen Synagogen-Grundstück und ist Sitz des Aktiven Museums Südwestfalen.

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„Wir stehen wieder an einem entscheidenden Punkt der Geschichte. Die Frage ist, ob wir aus der Vergangenheit lernen werden – oder nicht“, sagt Gabriela von Seltmann. Die Multimedia-Künstlerin ist Projektleiterin. Die Siegener Synagoge wurde anhand historischer Bilder dreidimensional im Computer rekonstruiert. Die siebenminütige Video- und Klanginstallation, innerhalb derer sie als riesige Projektion an den Ort zurückkehrt, an dem sie von 1904 bis 1938 stand, zeigt aber nicht lediglich den ursprünglichen Zustand, wie Gabriela Seltmann erklärt; die in Endlosschleife laufende Sequenz dreht vielmehr die Zeit um, beginnt mit dem brennenden Gebäude, aus dessen Trümmern die intakte Synagoge entsteht.

Die Siegener Synagoge als virtuelles 3D-Modell.
Die Siegener Synagoge als virtuelles 3D-Modell. © Unbekannt | Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland

Siegen: 3D-Rekonstruktion der Synagoge am Obergraben mit Künstlern aus drei Ländern

Es hat etwas von „Phönix aus der Asche“, sagt Gabriela von Seltmann. Damit ist eine starke Aussage verbunden, wie Co-Projektleiter Uwe von Seltmann ergänzt. Als in der Pogromnacht am 9. November mehr als 1400 Synagogen und Bethäuser in Deutschland zerstört wurden – in Siegen erst Tags darauf, am 10. November –, hätten die Machthaber verkündet, dies sei das Ende des Judentums. „Wir wollen zeigen: Hitler und die Nazis hatten nicht Recht“, sagt Uwe von Seltmann. Jüdisches Leben gebe es in Deutschland noch, „wenn auch anders als vor der Shoa“.

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Acht Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Ungarn und Polen sind an dem Projekt beteiligt. Es ist das erste dieser Art in Deutschland. 3D-Rekonstruktionen von Synagogen gebe es zwar schon, sagt Allon Sander, Jüdischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit; „aber die muss man suchen“, denn sie seien in der Regel Teil von Ausstellungen. Das Besondere am Siegener Ansatz: „Die Rekonstruktion kommt zu den Menschen. Dort, wo die Synagoge stand, kann sich jeder klar darüber werden, wie es früher dort aussah. Und was verloren ging. Wir kommen zurück nach Hause.“

Siegen: Geschichte des jüdischen Lebens in der Stadt ist vielen Menschen nicht bekannt

Erfahrungen mit dem Format und der dafür erforderlichen Technik gibt es bereits aus Warschau. Dort wurde erstmals 2018 die 1943 von den Nazis gesprengte Synagoge an die Fassade des Hochhauses projiziert, das heute an der betreffenden Stelle steht. Auch diese Projektion wird am Obergraben zu sehen sein, im Wechsel mit der Siegener Synagoge. Das Projektteam hofft nicht nur darauf, dass viele Menschen gezielt den Ort des Geschehens aufsuchen werden, um die Installation auf sich wirken zu lassen. Die Hoffnung ist vielmehr, dass auch zufällige Passantinnen und Passanten vorbeikommen und innehalten, wie Uwe von Seltmann anmerkt.

Viel Arbeit

Das Projekt ist äußerst aufwendig. Rund anderthalb Jahre Vorbereitung waren erforderlich, um die Siegener Synagoge virtuell als 3D-Modell zu rekonstruieren und die Umsetzung der Projektion zu planen und zu organisieren.Hauptsponsor des etwa 70.000 Euro teuren Projekts ist der Verein „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Finanzielle Unterstützer aus der Region sind das Kulturbüro des Kreises Siegen-Wittgenstein, Kultur Siegen und die Sparkasse Siegen.Die Installation ist weltweit zu sehen: Sie wird live im Internet übertragen auf dem Youtube-Kanal der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

Seiner Erfahrung nach haben nämlich erstaunlich wenige Menschen die lokalen Aspekte des Themas auf dem Schirm. Er habe bei vielen Leuten aus der Gegend herumgefragt. „Für mich war erschütternd, wie groß das Unwissen über jüdisches Leben in Siegen und über die Synagoge ist.“ Gerade dieses Wissen aber ist bedeutsam, weil es verdeutlicht, dass Naziterror und -verbrechen nicht nur irgendwo weit weg stattgefunden haben, sondern überall in Deutschland – und eben auch vor der eigenen Haustür.

Virtuelle Rekonstruktion der Siegener Synagoge: Menschen zum Nachdenken inspirieren

Die Rekonstruktion der Synagoge thematisiert nicht nur die Vernichtung eines Bauwerks in der Vergangenheit, wie Gabriela von Seltmann betont. Sie wirke symbolisch. „Wir reden über die Synagoge. Aber wir reden damit natürlich auch über jüdisches Leben, das aus der Stadt verschwunden ist.“ Dabei gehe es auch darum, Menschen zum Nachdenken über die eigene Position zu inspirieren. Auf den Bildern vom Brand der Synagoge seien die Zuschauerinnen und Zuschauer zu sehen, die Schaulustigen, die Zeugen dieses „sichtbaren Beginns des Holocausts“ gewesen seien. „Hätten die Zuschauer reagiert, vielleicht hätte es keinen Holocaust gegeben. Vielleicht hätte es sogar keinen Zweiten Weltkrieg gegeben.“

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Es gehe nicht um Schuld, betont die Künstlerin. Es gehe um Verantwortung in einer Zeit, in der Antisemitismus sich in vielen Ländern nicht mehr „nur“ in Hassrede, sondern auch in gewaltsamen Übergriffen ausdrücke. Es gehe auch um die Frage, wie Menschen zu begegnen sei, die „wütend und ängstlich“ seien – wegen Covid, wegen der wirtschaftlichen Lage, wegen was auch immer. Die Frage ist nicht neu, wie Gabriela von Seltmann anmerkt. Sie sei auch zur Nazizeit akut gewesen, schon im Deutschland der späten 1920er und frühen 1930er Jahre. Wie die Sache damals ausging, ist bekannt.

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„Dank der Kunst können wir mit Gefühl und empathisch über die Erinnerung sprechen“, sagt die Projektleiterin. Das Gesamtwerk, das am Obergraben zu erleben sein wird, ist eine Mischung aus Bildern, Video und Klang – zu hören sind synagogale Gesänge. Aber die hauptsächliche Technik, die Projektion, die basiert auf Licht; und schon das habe Symbolkraft: Für Leben. Für Hoffnung. Für Glück. Für eine friedliche Zukunft miteinander.

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