Siegen. . Dieter Pfau erforscht die Entwicklung der Erinnerungskultur in Siegen. Welche Rollen stetiger Wandel und Generatiosnwechsel dabei spielen.
Wie eine Gesellschaft sich an das Nazi-Regime und den Zweiten Weltkrieg erinnert, ist einem stetigen Wandel unterworfen. Der Historiker Dieter Pfau erforscht die Entwicklung der Erinnerungskultur in der Stadt Siegen und zeichnet Stationen und Einflüsse im Gespräch mit Florian Adam nach.
Es gibt immer wieder Leute, die sagen, mit der Erinnerung an die Nazi-Zeit sollte Schluss sein. Was antworten Sie denen?
Warum sollte Schluss damit sein, über die Vergangenheit zu reden? Das gehört doch zum Leben dazu. Erinnerungskultur bezieht sich auf die Art und Weise des Umgangs mit der Vergangenheit, im heutigen Sprachgebrauch vor allem auf die jüngere Geschichte, also Nationalsozialismus und Holocaust. Während des Prozesses der Auseinandersetzung wächst unser Wissen darüber, was geschehen ist.
Und die Forschung wird auch immer differenzierter. Wobei: In Siegen gibt es noch einigen Forschungsbedarf – durch den Bombenangriff am 16. Dezember 1944 sind viele Akten vernichtet worden, dass sollte aber nicht daran hindern, Wissenslücken über Forschungen in anderen Archiven zu schließen. Der 16. Dezember als Gedenktag ist aber noch in anderer Hinsicht prägend: Weil sich am Umgang mit diesem Ereignis zeigt, wie sich die zivilgesellschaftliche und die offizielle städtische Erinnerungskultur unterscheiden und beeinflussen.
Was prägt den aktuellen Ansatz?
Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre hat sich der heutige, aktuelle Stand der Erinnerungskultur herausgebildet: Die vollständige Anerkennung der Verbrechen und der Schuld des Nationalsozialismus. Es gab dazu eine bedeutsame Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Außerdem wurde 1996 der Tag der Befreiung von Auschwitz ein offizieller Gedenktag.
Wieso kam der Wandel gerade zu dieser Zeit?
Der Grund ist meines Erachtens nach hauptsächlich, dass ein Generationenwechsel erfolgt ist. Diejenigen, die den Nationalsozialismus noch als Jugendliche und junge Erwachsene miterlebt hatten, waren nicht mehr in entscheidenden Positionen.
Sie haben die Erinnerungskultur in Siegen untersucht. Wie fing es hier an?
Ich würde als Ansatz 1949 nehmen: da erschien die Broschüre „Siegen im Wiederaufbau“, in der man sich erstmals in offizieller Weise der jüngsten Vergangenheit vergegenwärtigt hat. Darin spielte die Erinnerung ans Kriegsende und an die Bombardierung Siegens am 16. Dezember eine bedeutsame Rolle. Was dort überhaupt nicht erwähnt wurde, waren die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.
Wann wurde in Siegen der Holocaust erstmals öffentlich in den Blick gerückt?
1950 ist ein Gedenkstein für die jüdischen Opfer auf dem Hermelsbacher Friedhof eingeweiht worden. Beantragt hatte das die jüdische Gemeinde, finanziert und unterstützt wurde es von der Stadt – ausdrücklich zur Wiedergutmachung. Damit trat damals eine neue Akteursgruppe in Erscheinung: Diejenigen, die den Standpunkt vertraten, dass vor allem Juden die Opfer des Nationalsozialismus sind.
Wie sollte man das denn anders sehen können?
Die Erinnerungskultur, wie wir sie heute kennen, ist relativ neu. Es gibt in einer Gesellschaft immer verschiedene Erinnerungskulturen – also verschiedene Vorstellungen davon, wie man sich an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern sollte. Sie werden von unterschiedliche Akteursgruppen ausgebildet. Deshalb ist Erinnerungskultur immer in Bewegung. Wie sie letztlich als Ganzes, als Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsenses aussieht, ist immer das Ergebnis eines Meinungsstreits darüber, was die richtige Sicht auf die Vergangenheit ist.
Der 16. Dezember, sagten Sie, ist für die Erinnerungskultur in Siegen ein zentraler Faktor?
Seit 1950 gab es an diesem Datum Gedenkveranstaltungen. Mitte der 50er fiel der Entschluss, das zu institutionalisieren. Es entstand die Gedenkstätte am Dicken Turm, eingeweiht am 16. Dezember 1959. Dabei kommt der Dualismus in der Siegener Erinnerungskultur zum Ausdruck: Sie wird eindeutig als Friedensgedenkstätte eingeweiht, und der damalige Oberbürgermeister erwähnt erstmals und ausdrücklich auch die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.
Und wieso „Dualität“?
Der Gedenkstätte wird eine pazifistische Sinnstiftung mitgegeben, die nicht mehrheitsfähig ist. Das zeigt sich, als im August 1960 mit Genehmigung der Stadt die beiden Gedenktafeln der Soldatenverbände außen am Dicken Turm angebracht werden.
Die Erinnerung an gefallene Soldaten passt doch sehr gut zur pazifistischen Überzeugung „Krieg ist schlecht.“
Diese Überzeugung haben alle geteilt. Die einen sagten aber „Nie wieder Krieg“, und die anderen „Nie wieder Krieg – aber wir brauchen aus Sicherheitsgründen unbedingt Militär“.
Welchen Einfluss hatte die Gründung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit?
1959 erschien mit der Christlich-Jüdischen eine neue Akteursgruppe auf der Bildfläche, die sehr aktiv war, Veranstaltungen und Vorträge organisierte – unter anderem kam Heinrich Böll nach Siegen. 1964 brachte sie die Gedenktafel an die jüdischen Opfer an der ehemaligen Synagoge an. Seitdem findet dort alljährlich die Gedenkstunde statt.
1967 wurde auf Initiative der Christlich-Jüdischen auch das Stück „Die Ermittlung“ von Peter Weiß über die Auschwitz-Prozesse in der Siegerlandhalle aufgeführt, vom Rostocker Volkstheater. Es waren mindestens 1100 Besucher da. Ich bin der Überzeugung: Für viele – gerade junge – Menschen hat der Besuch dieser Aufführung besondere Bedeutung gehabt, sie hat bei vielen zur Politisierung beigetragen.
Ein Sprung in die 80er Jahre – das Jahrzehnt der Friedensbewegung ...
1981 passiert in Siegen, was die Erinnerungskultur angeht, etwas Bemerkenswertes. Parallel zu der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt am Dicken Turm findet am 16. Dezember am Marktplatz eine Kundgebung der Friedensbewegung mit 4000 bis 5000 Teilnehmern statt. Da geht es zwar nicht primär um das Gedenken an die jüdischen Opfer des Naziregimes, sondern um die Frage, wie man mit der Erinnerung an Krieg umgeht – daran zeigt sich aber die Parallelität von zivilgesellschaftlicher und offizieller Erinnerungskultur, die die 80er in Siegen bestimmt.
Die Friedensbewegung greift aber auch das Thema Holocaust auf?
Mit ihrer Unterstützung gelingt es 1987, im Dicken Turm eine Gedenktafel an die jüdischen Opfer anzubringen – allerdings im Innenraum, während außen weiterhin die Tafeln der Soldatenverbände hängen.
Heute befindet sich die Tafel für die jüdischen Opfer außen am Turm – neben der Tür.
Bevor 1998 ein öffentliches Gelöbnis der Bundeswehr auf dem Schlossplatz stattfindet, beantragt die SPD auf Initiative von Traute Fries – dass die Gedenktafel außen angebracht wird, im Blickfeld der Rekruten. Diese, so die Begründung, sollen schließlich für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen – und auch dafür, das etwas wie der Nationalsozialismus nie wieder passieren kann. Der Rat stimmte damals einstimmig zu.
Das erste klare Zeichen einer sich verändernden Erinnerungskultur?
Schon 1988 fasste der Stadtrat einen Beschluss, dass er den jüdischen Opfern Anerkennung zuteil werden lässt. Was aber nach wie vor nicht ging: Dass man sich mit den Tätern beschäftigt. So weit reichte der Konsens nicht. Die zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur fand dafür immer stärkere Verbreitung, auch in den Schulen. Dabei wurde oft auch auf Materialien der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zurückgegriffen.
1996 eröffnet das Aktive Museum Südwestfalen am Platz der Synagoge. Ein Meilenstein?
Dazu ist zunächst festzustellen, dass sich auch die Gründung und Entwicklung des Museums vor allem dem langjährigen Engagement von Klaus Dietermann verdankt. Die Institutionalisierung des Gedenkens durch das Aktive Museum war nur durch einen breiten Konsens möglich: dem Trägerverein gehörten der Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein, Walter Nienhagen von der SPD, und Volkmar Klein von der CDU, damals Bürgermeister in Burbach, an. Es war ein parteiübergreifendes Engagement. Und es zeigt, wie stark die zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur die offizielle beeinflusst hat.
Ein Spannungsverhältnis?
Widerstreitende Erinnerungskulturen versuchen immer, sich gegen andere durchzusetzen. Einzelnen gelingt das, anderen nicht. In der Entwicklung geht es immer um die Frage „Was ist konsens- oder mehrheitsfähig?“ In Siegen trug dazu entscheidend die Arbeit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und des Aktiven Museums Südwestfalen bei – nicht zuletzt an den Schulen.
Wann hat sich der Wandel in Siegen endgültig vollzogen?
Im Jahr 2007 entscheidet die Stadt, dass bei den Gedenkveranstaltungen am Dicken Turm nicht mehr – wie seit den 50er Jahren immer – „Ich hatt’ einen Kameraden“ gespielt wird. Eine Kleinigkeit, aber symbolträchtig. 2008 kommt dann der bisher letzte wichtige Wendepunkt: Mit der Gründung des „Bündnisses für Demokratie“ haben wir den Stand erreicht, wie sich die Erinnerungskultur in der Stadt Siegen heute präsentiert.
Das Bündnis gründete sich, als Neonazis den 16. Dezember für einen Aufmarsch nutzen wollten, fast alle gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen schlossen sich zusammen – auch die, die sonst eher nicht an einem Tisch sitzen würden.
Damals entsteht mit „Ge(h) denken“ eine Ausdrucksform der Erinnerungskultur, die sich aktiv gegen die Verfälschung und Vereinnahmung der Geschichte durch den Neonazismus stellt. Das wird aller Voraussicht nach auch für die zukünftige Entwicklung der Erinnerungskultur von Bedeutung sein. Die Erinnerungskultur ist in stetiger Entwicklung in eine offene Zukunft begriffen, und die gesellschaftlichen Akteure sind gefordert, sich an ihrer Ausgestaltung zu beteiligen.
Sie arbeiten daran mit?
Im nächsten Jahr stehen die Erweiterung des Aktiven Museums und die Überarbeitung des Museumskonzepts an. Dabei bringe ich mich ein, und wir als Verein Aktives Museum möchten auch junge Menschen einladen, daran mitzuarbeiten. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie das Gedenken an Holocaust und Nationalsozialismus ausgestaltet sein sollte, damit es heute und in den nächsten Jahren insbesondere die junge Generation überzeugen kann.
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