Netphen. Insgesamt 735 Menschen verfolgen auf Youtube die Sitzung des Netphener Rates. Die meiste Zeit sehen sie – nichts.
Bürgermeister Paul Wagener begrüßt zur Ratssitzung nicht nur die Anwesenden im Ratssaal, sondern auch „die Zuhörer draußen an den Bildschirmen“. Erstmals überhaupt im Siegerland wird eine Ratssitzung ins Internet übertragen. „Ich bin gespannt auf die Auswertung“, sagt Heike Büdenbender, Leiterin der Zentralen Verwaltung, die jetzt technische Hinweise gibt. Draußen an den Bildschirmen wird man sie weder hören noch sehen. „Der aktuelle Wortbeitrag wird aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht übertragen“ – diese Texttafel wird das Publikum über weite Strecken des gut spielfilmlangen Ereignisses zu sehen bekommen.
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Herzlich willkommen
Paul Wagener gratuliert – wie immer zu Beginn einer Ratssitzung – den „Geburtstagskindern“ in der Regel schon fortgeschrittenen Alters. Das Publikum erfährt, Datenschutz hin oder her, auf diese Weise die Geburtstage einiger Ratsmitglieder. Der Bürgermeister und sein Beigeordneter Andreas Fresen sind die einzigen auf der Verwaltungsbank, die die erforderliche Einverständniserklärung abgegeben haben und deshalb gefilmt werden dürfen. Aus dem Rat haben 24 unterschrieben, elf nicht. Was nicht wirklich wundert: Das Streaming hinein ins Neuland, initiiert von der FDP-Fraktion, ist umstritten. Zwei Mal hat der Rat darüber geheim abgestimmt und einmal mit 17 gegen 16 Stimmen beschlossen, ein zweites Mal mit 23 gegen 11 Stimmen bei einer Stimmenthaltung.
So streamen die Anderen
Im Kreistag wird im Dezember die Generaldebatte zum Haushalt 2022 aufgezeichnet und „im Nachgang als Zusammenstellung veröffentlicht“. So hat es der Kreistag bei drei Gegenstimmen beschlossen. Der Siegener Rat hat sich für eine bis zu einjährige Testphase bei der Live-Übertragung und Aufzeichnung von Ratssitzungen ausgesprochen. In der Ratssitzung im Juni stimmten 31 Stadtverordnete dafür, 30 dagegen, ein(r) enthielt sich der Stimme. Begonnen werden soll, wenn der Rat wieder im Geisweider Ratssaal tagen kann. In Burbach hat der Rat das Streaming mit 5 gegen 24 Stimmen bei einer Stimmenthaltung abgelehnt. Den Antrag gestellt hatte die UWG-Fraktion.In Neunkirchen wurde ein Grünen-Antrag für das Streaming von Ratssitzungen mit 7 gegen 7 Stimmen im Hauptausschuss abgelehnt.Die Verwaltungen beziehen sich stets auf eine Rechtsauslegung des Städte und Gemeindebundes: Weil beim Streaming personenbezogene Daten der Anwesenden verarbeitet werden, bedürfe dies nach der Datenschutz-Grundverordnung „einer datenschutzrechtlichen Rechtfertigung“. Und: „In Betracht kommt hierfür nur eine vorherige Einwilligung.“
Die nächste gute halbe Stunde sehen Sie – nichts. In dieser Zeit nimmt der Rat den Bericht über die Ausführung seiner Beschlüsse zur Kenntnis: Manfred Heinz (SPD) fordert mehr Tempo bei den Überlegungen für ein neues Schulzentrum auf der Haardt, „sonst bekommen wir 2026 eine enorme Schulauseinandersetzung in Netphen“. Denn dann brauchen die Grundschulen Platz für den Ganztag für alle. Danach berichtet Kämmerer Hans-Georg Rosemann über den aktuellen Stand der Auseinandersetzung zwischen Bürgermeistern und Landrat über die Höhe der Kreisumlage. Dann kommt der Bebauungsplan Dahlborn in Deuz an die Reihe.
Kampf für Werthenbach
Beim Tagesordnungspunkt 10 geht zum ersten Mal jemand ans Rednerpult, der Kameramann von Siegfilm bekommt Arbeit, und Siegfilm-Inhaber Dr. Volker Loos, der mit dem städtischen IT-Mann Jan Seidel an den Monitoren sitzt, hat endlich einmal ein zweites Motiv zur Auswahl: CDU-Fraktionschef Sebastian Zimmermann erklärt, warum im nächsten Jahr doch der Dorfplatz Werthenbach den Vorrang vor der Sanierung der Bürgerbegegnungsstätte Unglinghausen haben soll: „Viele Bürger haben sich eingebracht, die Dorfjugend steht in den Startlöchern.“
Vorher hat Jörg Roth (UWG) erklärt, dass die Bürgerbegegnungsstätte in Unglinghausen Räume an die benachbarte Feuerwehr abgebe, deren Gerätehaus saniert und erweitert. „Das eine bedingt das andere“, wirbt er für die „ökonomisch sinnvolle Gesamtmaßnahme“. Und auch in Unglinghausen stünden „Hacke und Schaufel bereit“. Nach Sebastian Zimmermann spricht Olaf Althaus (FDP): „Wir stehen im Wort für Werthenbach.“ Das wiederum hört draußen an den Bildschirmen niemand. Denn übertragen wird nur, wer zum Rednerpult geht. Der Kameramann darf nicht zum Platz kommen – die Gefahr ist zu groß, dass Personen ins Bild kommen, die das nicht wollen. Außerdem spiegeln die Plexiglasscheiben zwischen jedem Platz. Corona ist ja auch noch.
Ein kurzes Wiederbeleben für den Bildschirm: Beigeordneter Andreas Fresen erklärt, dass das Feuerwehrgerätehaus in Unglinghausen auch unabhängig von der Bürgerbegegnungsstätte saniert werden kann. „Alle Maßnahmen sind trennbar und haben nichts miteinander zu tun.“ Das Publikum draußen bekommt nun wieder viel Zeit, sich den Zusammenhang mit Werthenbach zu erschließen. Denn nun wird die Debatte für die geheime Abstimmung unterbrochen. Die Zuschauerzahl bei Youtube, die gerade den Gipfel von 106 erreicht hat, halbiert sich in Minutenschnelle. Die meisten kommen aber wieder und hören das Ergebnis: Mit 17 gegen 18 Stimmen lehnt der Rat die Priorität für Unglinghausen ab. Dass danach offen mit Stimmkarten der Werthenbacher Dorfplatz auf den ersten Platz gesetzt und somit die gut eine Woche junge Empfehlung des Stadtentwicklungsausschusses wieder umgekehrt wird, muss verborgen bleiben: Man kann die roten Karten ja nicht ohne die Gesichter zeigen.
Argumente für Grissenbach
Kurz vor 18 Uhr nutzt Silvia Glomski (Grüne) das Rednerpult, ausdrücklich „mit Blick auf die sozialen Medien“: Denn nun geht es um die Ahornbäume im Hofgarten, die gefällt werden, damit die Straße ausgebaut, Leitungen gelegt und fünf Bauplätze erschlossen werden können. Bei Facebook haben die Grünen, weil sie zugestimmt haben, viel Ärger bekommen. Das kleine Baugebiet sei „eine Möglichkeit, Natur und Bauplanung in Einklang zu bekommen“, erklärt sie. Und weil es den Wiesenknopf auch auf anderen Wiesen in Netphen gebe, werde es kaum ein Problem sein, den Ameisenbläuling, eine geschützte Schmetterlingsart, umzusiedeln. Mit 28 Stimmen wird der Straßenbau im Hofgarten beschlossen, ein Ratsmitglied stimmt dagegen, sechs enthalten sich der Stimme.
Das Publikum draußen an den Bildschirmen bekommt noch einmal etwas zu sehen: Zumindest Sebastian Zimmermann (CDU), Lothar Kämpfer (SPD) und Silvia Glomski (Grüne) zeigen sich bei der Debatte über das auf der Braas neu entstehende Gewerbegebiet. Irgendwann plärrt sogar eine Alexa, der Sprachcomputer von Amazon mit Frauenstimme: „Ich habe dich leider nicht verstanden.“ Der nächste Tagesordnungspunkt verschwindet wieder hinter der Texttafel, gegen Schluss („Verschiedenes“) kommt Tobias Glomski (Grüne) noch einmal mit einer Frage zur Haushaltsplanung.
Auf Wiedersehen
Und dann ist es vorbei. Bürgermeister Paul Wagener bedankt sich „bei den Zuschauern auf den Bildschirmen“, darunter wohl auch Profis aus anderen Rathäusern, denen Ähnliches bevorsteht. 735 waren es, im Schnitt zehn Minuten haben sie ausgehalten. Zum Vergleich: Die Kommunalwahlabend-Übertragung aus dem Ratssaal haben 6700 gesehen, in der Spitze 520 gleichzeitig. Für den nicht öffentlichen Sitzungsteil müssen auch die Kameras raus. Das Ereignis ist unwiederbringbar vorbei: Aufzeichnen und Mitschneiden war verboten. Zwei Fortsetzungen folgen.
Kommentar: Der Streaming-Fehlstart wirft Fragen auf
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