Siegen. . Siegen hat eine Wasserstofftankstelle. Es stellt sich die Frage: Wie betankt man ein Wasserstoffauto? Und wie viele Footballspieler passen rein?
Eigentlich, das vorweg, fahre ich Ford Mustang. Ein Auto von gestern. Jahrzehntealte amerikanische Technik. Groß, laut, ungehobelt – unnötig im Grunde. Ein Auto für Angeber. Eine Spritschleuder. Weiß ich alles, ist auch alles richtig. Ein Toyota Mirai Fuelcell, angetrieben von einer Wasserstoff-Brennstoffzelle, ist das automobile Gegenteil: Technologie der Zukunft. Dezent, durchaus nicht unelegant, komfortabel. Wenn der Mustang der Vorschlaghammer ist – der Mirai ist die Nagelfeile.
Am Montag, 24. Juni, ging die erste Wasserstofftankstelle der Region im Siegener Gewerbegebiet Oberes Leimbachtal in Betrieb. Anlass, den Mirai zwei Tage lang zu testen.
Platz
Aaron Pfennig, Offensive Line, 1,91 Meter groß, 135 Kilo schwer. Footballspieler in der Jugendmannschaft der Siegen Sentinels. Er ist der größte und schwerste und kommt auf den Beifahrersitz. Trotzdem muss er seine langen Beine ziemlich falten und quetschen, bis er im Mirai sitzt. Der Wasserstoff-Japaner ist automobiltechnisch ziemlich unamerikanisch, hatten wir festgestellt. Es liegt also nahe, herauszufinden, wie viele American-Football-Spieler in voller Montur, mit Schulterschutz und Helm, in den Wagen passen.
Sieben, um es kurz zu machen. Steht ja auch in der Überschrift. Als da noch wären: Jan Zimmermann, Receiver, 1,92 Meter, 78 Kilo. Jan Hardtmann, ebenfalls Receiver, 1,92 Meter, 80 Kilo. Die beiden haben lange Beine und kommen auf den Rücksitz. Dazwischen quetscht sich Merlin Beul, Runningback – mit 1,60 Metern und 65 Kilo passt er so gerade auf die hohe Mittelarmlehne. Auf dem Fahrersitz nimmt Quarterback Matthias Schaffer Platz, 1,80 Meter, 73 Kilo. Der Kofferraum ist noch leer, also faltet sich Receiver Johannes Reuter hinein. Mit 1,71 Metern und 85 Kilogramm machbar. Trotz Rüstung.
Persha Khalifeh (Linebacker, 1,78 Meter, 82 Kilo) ist der letzte: Mit Schieben und Zehen wird er auf die Knie von Aaron und Matthias bugsiert. Füße und Kopf einziehen, drin. Coach Tim Burmeister koordiniert grinsend von außen. Die Jungs, eine witzige Truppe, hart und herzlich, gibbeln schweißnass im stickigen Auto vor sich hin und sind bald erlöst. Um sich auf der Glückaufkampfbahn, Köhlerweg 24 in Weidenau, weiter abzurackern. Wie jeden Dienstag und Donnerstag von 18 bis 20 Uhr. Neue Football-Interessierte, auch weibliche, sind jederzeit sehr willkommen.
Wie viele Footballspieler passen in einen Toyota Mirai?
Komfort
Ziemlich hoch. Auch wenn er flach auf der Fahrbahn zu kauern scheint: Man thront hoch über der Straße, ungefähr Golf-Plus-Niveau. Beim Einsteigen fahren die Vordersitze zurück, das Lenkrad nach vorn – jede Menge Platz. Gerade für ältere oder gebrechliche Fahrer sehr bequem. Das irritiert zunächst, man will direkt den Sitz nach vorne schieben. Sobald man sich anschnallt, fahren Sitz und Lenker in Position. Es lassen sich übrigens zwei verschiedene Sitzpositionen abspeichern und per Tastendruck anwählen.
Die Sitze sind, wie große Teile des Interieurs, mit Veloursleder bezogen und können in alle Himmelsrichtungen eingestellt werden. Da zumindest die Vordersitze mit Wirbelsäulenstabilisatoren ausgerüstet sind, die auch breite Rücken vertragen, fällt schulterhängendes Herumlümmeln aus. Auch auf längeren Fahrten bleibt man kerzengerade.
Ein Wort noch zur Feststellbremse: Fußpedal. Schöne Reminiszenz an alte Mercedes-Modelle. Mit dem Unterschied, dass sich die Mirai-Variante mit sanftem Druck auch wieder lösen lässt...
Handling und Leistung
Von Null auf Hundert in 8 Sekunden – bergab. Mehr ist nicht drin. Auf ebener Strecke oder leichtem Anstieg nicht unter 11 Sekunden. Die 155 PS des Mirai sind solide, mehr aber auch nicht. Der Antritt aus dem Stand ist ordentlich, nicht ganz so flott wie bei kleinen Elektroflitzern, aber um beispielsweise einen Mustang an der Ampel stehen zu lassen, reicht es. Während der allerdings losjault wie eine getretene Kuh gibt das Mirai-Aggregat beim Beschleunigen ein niedliches Fauchen von sich. Wie ein Katzenjunges mit schlechter Laune. Putzig. Ab 70 wird es dann weniger mit dem Durchzug. Kein Sprinter, sondern ein Langstrecken-Cruiser.
Das gewisse Etwas der Wasserstoff-Technik
Entscheidender Unterschied zu Verbrennern ist die Antriebstechnik. Das fast lautlose Gleiten ist ein Wert an sich, bei einem leisen Grundgeräusch, einer Art UFO-mäßiges Flirren. Irre Cool. Erst recht, wenn bei Dunkelheit die Hintergrundbeleuchtung futuristisch blau glimmt.
Der Antrieb macht etwas mit dem Fahrverhalten. Eco- und Power-Modus unterscheiden sich kaum, aber man versucht sowieso, umweltfreundlich zu fahren. Beim Verbrauch lande ich in der Stadt bei 1,4 Kilo Wasserstoff auf 100 Kilometer. Überlandfahrt durchs Südsiegerland: 0,7 Kilo.
Das Auto fordert umweltgerechteres Fahren quasi ein: Schaltet man das Aggregat ab, wird kurz ein Punktestand angezeigt, wie nachhaltig man fuhr. Vermutlich habe ich mal mehr als 60 (von 100) geschafft. Die Anzeigezeit ist wirklich kurz. Wirklich schön wird der aktuelle Energieverbrauch im Bordcomputer gezeigt, was das Brennstoffzellensystem auf einen Blick erklärt: Wasser- und Sauerstoff reagieren, es entsteht Energie, die die Räder antreibt. Reicht das nicht, schaltet sich eine Batterie zu. Beim Bremsen oder bergab wird Energie gewonnen und speist die Batterie.
Apropos Mustang: Der hoppelt über HTS-Dehnungsfugen wie ein Karnickel auf der Flucht. Der Mirai gleitet einfach darüber. Selbst auf Weidenauer Nebenstraßen-Buckelpisten oder dem durchlöcherten Schotterparkplatz der Uni am Adolf-Reichwein-Campus schluckt der Mirai mit sanftem Schaukeln auch faustgroße Kiesel.
Alltagstauglichkeit
Meine Freundin gehört zu denen, die die Bremse bei Automatikgetrieben mit links bedienen. Sie ist erst einmal im Leben Automatik gefahren. Und ihre letzte Auto-Strecke, die nicht von ihrem Elternhaus zum Supermarkt führt, fuhr sie vor mehreren Jahren. Sie kommt aber auf Anhieb klar. Der Wählhebel für die Fahrmodi erklärt sich dank des Displays von selbst. Das Navi und die Musikanlage im Grunde auch, mit wenigen Handgriffen findet man heraus, wie sich die Bässe des ebenso wuchtigen wie klaren JBL-Systems hochkitzeln lassen.
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Also ein normaler Automatikwagen scheinbar. Tanken ist nicht ganz so normal, aber in keiner Weise kompliziert. Wasserstoff wird mit 700 Bar Druck in den Tank gepresst, was sich von Benzin ins Auto laufen lassen dezent unterscheidet. Im Handschuhfach liegen Tankkarte und PIN, einstecken, eingeben, anfangen. Die Zapfpistole wird aufgesetzt, der Hebel gezogen – arretiert. Grünen Start-Knopf drücken, kurz Panik kriegen weil nichts passiert und die Tanksäule ächzt los. In meinem Fall passen knapp zwei Kilo Wasserstoff (zu je 9,50 Euro) in den Tank. Das dauert ungefähr 3 Minuten. Hebel wieder lösen, Zapfpistole einhängen, nochmal kurz Panik kriegen, weil die Tankstelle keinen Beleg ausspuckt. Aber Toyota zahlt ja eh.
Angeber-Faktor
Niedrig. Die Damenmannschaft der Siegen Sentinels, die gerade aufgebaut wird (und ebenfalls gerne neue Mitglieder aufnimmt) winkt geschlossen ab. Langweilige Karre. Damit braucht kein Verehrer sie zum Date abholen. „Wartet mal ab, wenn die Kinder da sind“, meint ein Mannschaftsbetreuer grinsend.
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Rassig ist der Mirai in der Tat nicht. Von hinten wirken die ausgestülpten Frontscheinwerfer wie Frosch-Glupschaugen, von vorne erinnert er an ein aggressives Nagetier. Aber so sieht eigentlich jede zweite Limousine heute aus; und genau das ist der Mirai im Grunde auch: Ein Auto wie jedes andere. Er hat die üblichen Assistenzsysteme und elektrischen Spielereien, die manche Puristen verabscheuen und ohne die andere kein Auto mehr kaufen. Beheizte Scheibenwischer oder Spurassistenten, die höflich auf Linien hinweisen und nicht unverschämt am Lenkrad rucken, gibt es auch in Diesel-Autos. Manche von denen sind sogar leise.
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