Menden. Die Mendenerin wurde als Kind und Jugendliche missbraucht und misshandelt – vom Vater und vom Pflegevater. Niemand half.
Als Kind und junges Mädchen wurde sie misshandelt, missbraucht und vergewaltigt. Mehrmals hat das junge Mädchen im Laufe der Jahre beim Mendener Jugendamt um Hilfe gebeten – doch vergeblich, erzählt sie. Niemand habe ihr damals geholfen, sagt die heute 55-Jährige.
Die Vorwürfe
Unter dem Pseudonym Svenja Wagner (der tatsächliche Name ist der Redaktion bekannt) hat die Mendenerin vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem sie auch ihre Erfahrungen mit dem Jugendamt schildert. „Und ich musste bleiben. Mein Vater trieb meine Mutter in den Suizid und zerstörte meine Kindheit“ heißt das Buch, das bei Bastei Lübbe erschienen ist.
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Die Mendenerin lebte nach dem Tod ihrer Mutter zunächst bei ihrem Vater, dann bei Pflegeeltern und zwischendurch bei einem weiteren nicht-offiziellen Pflegevater. Sie schreibt in ihrem Buch darüber, dass sie als junges Mädchen der Sozialarbeiterin des Jugendamtes berichtet, dass sie von ihrem Pflegevater geschlagen wird. Darüber hinaus habe sie Andeutungen wegen sexueller Missbräuche durch ihren Pflegevater gemacht, „erhalte aber keine Hilfe“, so ihr Fazit. Die Schläge durch den Pflegevater seien Alltag gewesen: „Ich versuchte, mich in mein Zimmer zu retten.“ Doch ihr Pflegevater „griff nach meinen Haaren und riss mich zu Boden. Ich schrie laut auf, als ich auf den harten Zement knallte, doch anstatt von mir abzulassen, trat er wahllos auf mich ein“, schreibt sie in ihrem Buch. Als sie bei einer Nachbarin Hilfe sucht, habe diese das Jugendamt angerufen. Ergebnis: „Eine Stunde später war ich wieder bei meinen Pflegeltern.“ Der Pflegevater habe ihr „noch im Beisein der Sozialarbeiterin eine zimmern“ wollen. Diese sei aufgesprungen und habe sich schützend vor das Mädchen gestellt. Danach sei sie nur noch geschlagen worden, „wenn keiner vom Jugendamt dabei war“.
Ihr Vater und ihr Pflegevater hätten sich im Laufe der Zeit „einen regelrechten Wettstreit“ geliefert, „bei dem es offenbar nur darum ging, mich zu brechen. Am Ende beschlossen sie, mich ab jetzt an die Kette zu legen und bei jeglichem Widerstand rigoros zu bestrafen“, schreibt Svenja Wagner. „Die Mitarbeiter vom Jugendamt wurden völlig überrumpelt von der Aggressivität ,meiner Väter‘ gegen mich. Doch auch diesmal unternahmen sie nichts, weder, um mich hier wegzuholen, als ich darum bat, noch, um mich zu schützen. Aber das war ich ja schon gewohnt.“
„Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Kein einziger Mitarbeiter vom Jugendamt stattete meinen Pflegeeltern mehr einen Kontrollbesuch ab. Niemand fragte mich jemals, wie es mir weiterhin erging. Das Jugendamt schien sich komplett zurückzuziehen, fast, als habe man Angst vor dem, was man wohl noch erfahren könnte.“
Als Vater und Pflegeeltern gegenüber dem Jugendamt geäußert hätten, dass sie keine weitere Unterstützung mehr wünschten, habe das Jugendamt mitgeteilt, dass es sehr wohl weitere Gespräche geben müsse – gerade auch im Interesse des Kindes. Allerdings, so Svenja Wagner: „Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Kein einziger Mitarbeiter vom Jugendamt stattete meinen Pflegeeltern mehr einen Kontrollbesuch ab. Niemand fragte mich jemals, wie es mir weiterhin erging. Das Jugendamt schien sich komplett zurückzuziehen, fast, als habe man Angst vor dem, was man wohl noch erfahren könnte.“
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Auch als Svenja Wagner sich mit körperlichen Verletzungen ans Jugendamt wendet, erfährt sie nach ihren Schilderungen keine Hilfe. „Mein Hals war bis zum Schlüsselbein voller Blutergüsse, meine Stirn, Arme und mein Dekolleté zierten Kratzer, überall auf meinem Körper waren blaue Flecken verteilt, und mein rechtes Auge war blutunterlaufen.“ Ihr Vater hatte, so beschreibt sie, ihren Kopf gegen Waschbeckenarmatur und Spiegelschrank krachen lassen: „Anschließend hatte mein Vater seine Hände um meinen Hals gelegt und so lange zugedrückt, bis ich nur noch ein paar erstickte Laute von mir geben konnte.“
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Die Akte
Die Mendenerin zitiert gegenüber der WP Einträge aus ihrer Jugendamtsakte. Als sie von ihrem Pflegevater geschlagen worden sei, habe es in der Jugendamtsakte geheißen: „Wir schätzen die weitere Entwicklung sehr negativ ein und befürchten, dass sich derartige ,Vorfälle‘ wiederholen. Der derzeitige Stand ist, dass die Pflegeeltern und der leibliche Vater eine Hilfestellung durch das Jugendamt nicht wünschen, da ,alles bereinigt ist‘. Im Interesse der kindlichen Entwicklung können und wollen wir dies nicht akzeptieren und werden uns bemühen, weitere Gespräche mit den Beteiligten führen.“ Dies indes sei nicht passiert, erklärt Svenja Wagner. „Entgegen der Ankündigung zog sich das Jugendamt nach diesen Vorfällen vollständig zurück. Es gab keine weiteren Gespräche und auch keine Kontaktversuche des Jugendamtes mehr, weder zu den Pflegeeltern noch zu meinem Vater und erst recht nicht zu mir (durch Jugendamtsakte belegt). Die Übergriffe auf mich im Haus der Pflegeeltern sind danach weiter eskaliert.“
Bis sie Einblick in ihre Jugendamtsakte erhielt, dauerte es Jahre, sagt die Mendenerin. Nach ihrer Akte beim Jugendamt habe sie früher bereits gefragt, doch sei ihr mitgeteilt worden, dass diese bereits vernichtet worden sei. Das sei aber nicht so, sagt Svenja Wagner. Das konnte sie im Zusammenhang von Opferentschädigungsverfahren feststellen.
„Die Akte war dann seltsamerweise auf einmal doch da und war nicht vernichtet worden.“
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Die Opferentschädigung
In jüngerer Zeit habe es drei Opferentschädigungsverfahren – hierbei geht es um eine finanzielle Leistung für Opfer von Gewalttaten – gegeben, „und da wurde meine Jugendamtsakte vom Gericht angefordert“, erzählt Svenja Wagner. Über ihren Rechtsanwalt, der Einblick in die Akte beantragt habe, habe auch sie schließlich die damaligen Aufzeichnungen lesen können: „Die Akte war dann seltsamerweise auf einmal doch da und war nicht vernichtet worden.“
„Die Verfahren haben sich über sieben, acht Jahre gezogen. Das war für mich sehr anstrengend, eine enorme Belastung.“
Zu den Opferentschädigungsverfahren seien zwar auch damalige Täter geladen worden, erzählt Svenja Wagner. „Von denen ist aber ist keiner aufgetaucht. Die haben sich krank gemeldet und schriftliche Aussagen gemacht.“ Mittlerweile seien die Opferentschädigungsverfahren abgeschlossen. Die Richter „haben gesagt, dass meine Aussagen glaubhaft sind“.
Svenja Wagner ist froh, dieses Kapitel beenden zu können: „Die Verfahren haben sich über sieben, acht Jahre gezogen. Das war für mich sehr anstrengend, eine enorme Belastung.“ Mehrere Stunden sei sie jeweils von den Gerichten befragt worden.
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Das Jugendamt
Was sagt das Jugendamt zu den Vorwürfen der Mendenerin? Zu den damaligen Ereignissen könne sich das Jugendamt nicht äußern, sagt Antje Stange, stellvertretende Leiterin, auf Nachfrage der Westfalenpost. „Wir haben darüber keine Kenntnisse und können dazu keine weitere Stellungnahme abgeben.“ Zudem sei aus der damaligen Zeit kein Mitarbeiter mehr im Dienst. „Der Umgang mit Gefährdungen war damals wahrscheinlich ein anderer als heute. Sollte es damals zu solchen Vorfällen im Mendener Jugendamt gekommen sein, bedauere ich das sehr und denke, dass wir heute gut aufgestellt sind, Kindern und Jugendlichen in Not zu helfen und sie ernst zu nehmen“, erklärt Antje Stange in einer schriftlichen Stellungnahme.
Und wie würden vergleichbare Fälle heute ablaufen? „Wenn wir als Jugendamt davon Kenntnis bekommen, dass ein Kind zum Beispiel geschlagen oder sexuell missbraucht wird, dann sind die Kollegen natürlich sofort alarmiert“, sagt Antje Stange. Wenn es beispielsweise um Verletzungen gehe, werde auch ein Kinderarzt eingeschaltet. Missbrauch könne bis heute leider nicht verhindert werden, aber das Jugendamt wolle Kindern „Schutz bieten“.
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Für Gefährdungsfälle gelten heute festgelegte Standards, sagt Antje Stange. Das Jugendamt der Stadt Menden biete verschiedene Hilfen bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch, körperliche oder seelische Gewalt. „Ein Rahmenkonzept zur Umsetzung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) regelt im Jugendamt Menden das weitere Vorgehen. Jedes Team hat Standards entwickelt, die den Schutz des Kindes /Jugendlichen sicherstellen und dienstverpflichtend sind.“ Dazu gehöre, „bei der Meldung einer Kindeswohlgefährdung die Gefährdungseinschätzung im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte nach § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, Anm. d. Red.) zu beraten“. Eine Kinderschutzfachkraft könne bei Bedarf hinzugezogen werden. So sei zu prüfen, „ob eine Gefährdung vorliegt und wie diese abzuwenden ist“ – zum Beispiel durch die Einleitung einer Hilfe zur Erziehung, die Einschaltung einer anderen Institution oder bei akuter Gefährdung durch eine Inobhutnahme.
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Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch werde die betroffene Familie beziehungsweise das Kind an die Fachstelle gegen sexuellen Missbrauch des zfb (Zweckverband für psychologische Beratungen und Hilfen) übergeleitet. Hierzu gebe es einen gemeinsamen Handlungsleitfaden der Städte Hemer, Menden und Iserlohn. In der Beratungsstelle könne bei Bedarf eine Krisenintervention, Diagnostik und Vermittlung von Therapien für das Kind beziehungsweise den Jugendlichen erfolgen.
„Nicht immer liegt ein sexueller Missbrauch oder ein gewaltsamer Übergriff zweifelsfrei vor“, erläutert Antje Stange. „Um in Verdachtsfällen Hilfe und Klärung anzubieten, können durch das Mendener Jugendamt zwei Kinderschutzambulanzen (Hagen oder Unna) mit der Begutachtung der Kinder/Jugendlichen beauftragt werden.“
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Um einen institutionellen Missbrauch zu verhindern, hat das Jugendamt ein Rechte- und Schutzkonzept entwickelt, das Kinder, Jugendliche und ihre Eltern vor Machtmissbrauch, körperlichem und sexuellem Missbrauch schützt. „Die Hilfeempfänger sollen gestärkt werden, sich an ihren Hilfeprozessen aktiv zu beteiligen und zugleich ihre Beschwerdewege kennen“, erklärt Antje Stange. „Die Einrichtungen und Fachdienste des Jugendamtes Menden sollen sichere Orte für Kinder und Jugendliche sein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden durch regelmäßige Präventionsschulungen sensibilisiert.“ Das Konzept wurde im November 2024 vom Kinder- und Jugendhilfeausschuss verabschiedet.
Kinder und Jugendliche können sich im Beratungsfall auch ohne Wissen ihrer Eltern beim ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) des Jugendamtes und den Erziehungsberatungsstellen melden, erläutert Antje Stange, „und ihre Situation schildern“.
„Ich will jetzt eigentlich nur meine Ruhe haben und damit abschließen.“
Das Heute
Die furchtbaren Erlebnisse liegen mittlerweile mehrere Jahrzehnte zurück. Doch für Svenja Wagner sind sie immer noch präsent. Dass sie alles durchgestanden hat, sei auch der Tatsache zu verdanken, dass ihr Rechtsanwalt ihr Ehemann ist, der sie immer gestärkt und unterstützt habe. „Ich will jetzt eigentlich nur meine Ruhe haben und damit abschließen.“