Menden. Niemand hat geholfen: Eine Mendenerin schildert, wie sie als Kind und Jugendliche jahrelang misshandelt und missbraucht wurde.
Viele Jahre wurde die heute 52-jährige Mendenerin als Kind und Jugendliche von ihrem Vater und ihren Pflegeeltern misshandelt und missbraucht – körperlich und seelisch. Ihre Erlebnisse schildert sie in dem Buch „Und ich musste bleiben“, das sie unter dem Pseudonym Svenja Wagner veröffentlicht hat. Ihren Mädchennamen hat sie mittlerweile abgelegt und den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen. Der tatsächliche Name ist der Redaktion bekannt.
In Ihrem Buch schildern Sie, wie Ihr Vater Ihre Mutter mit psychischer und physischer Gewalt in eine Depression getrieben hat und was er und Pflegeeltern Ihnen als Kind und Jugendliche angetan haben. Haben Sie im Rückblick irgendwelche Hinweise, warum Ihr Vater und Ihre Pflegeeltern sich derart verhalten haben?
Svenja Wagner: Als Kind wurde ich oft Zeugin, wie mein Vater meine Mutter verprügelte. Ich denke, spätestens nach dem Suizid meiner Mutter begann mein Vater mich zu hassen, weil ich ihn immer wieder damit konfrontierte und er mich nicht zum Schweigen bringen konnte. Die durch die Missbräuche bedingten Probleme mit meinen Pflegeeltern kamen meinem Vater daher sehr gelegen. Um seine Gewaltübergriffe auf meine Mutter zu bestreiten, stellte er mich als unglaubwürdiges, missratenes Kind hin und führte als Beweis für seine Behauptungen die Probleme mit den Pflegeeltern an. Die Pflegeeltern merkten schnell, dass ich alles andere als Schutz von meinem Vater zu erwarten hatte, und da ich auch sonst keine Hilfe bekam, wurde ich zum Freiwild.
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Sie haben in Menden zwei Grundschulen und drei weiterführende Schulen besucht. Hat nie ein Lehrer oder ein Mitschüler gemerkt, welcher Gewalt Sie zu Hause ausgesetzt waren?
Nachdem mein Vater mich am Vorabend wieder einmal geschlagen hatte, sprach mich am nächsten Tag in der Schule einmal eine Mitschülerin auf die Prellungen in meinem Gesicht an. Lehrer haben mich jedoch nie auf irgendetwas angesprochen. Selbst als meine Entschuldigungsschreiben plötzlich von vollkommen fremden Menschen – meinen zweiten (inoffiziellen und nicht autorisierten) Pflegeeltern – verfasst wurden, hinterfragte niemand meine familiäre Situation.
Sie haben als Kind unter anderem Hilfe bei einer Nachbarin gesucht, als Ihre Mutter vor Ihren Augen von Ihrem Vater und Ihrem Großvater zusammengeschlagen wurde. Diese hat – so schildern Sie es in dem Buch – versucht, Sie zu beschwichtigen, das Ganze als „Familienangelegenheit“ abgetan, bei der man nicht die Polizei rufen müsse. Können Sie sich im Rückblick erklären, warum die Frau nichts unternommen hat?
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Es fällt mir schwer, das zu verstehen, aber es lag wohl an der Zeit. Es waren die 70er Jahre und es herrschte noch die Vorstellung eines vollkommen legitimen Machtanspruchs von Männern über ihre Frauen und Kinder.
Gab es jemals eine Aussprache mit Ihrem Vater oder Ihren Pflegeeltern?
Nicht mit meinem Vater, aber meine erste Pflegemutter hat vor etwa 25 Jahren Kontakt zu mir aufgenommen. Im Gespräch wurde deutlich, dass sie damals bereits wusste, dass ihr Mann mich als Kind missbrauchte. Es schien jedoch, als versuche sie, ihr Wegsehen mit der Erklärung zu entschuldigen, dass sie selbst in einer misslichen Situation gewesen sei, da sie sich aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen gezwungen fühlte, als homosexuelle Frau in einer heterosexuellen Ehe zu leben.
Ihr Vater ist vor wenigen Jahren gestorben. Welche Gefühle haben Sie heute, wenn Sie an Ihren Vater zurückdenken?
Da seit meiner Flucht von zu Hause kurz nach meinem 17. Geburtstag praktisch kein Kontakt mehr zu meinem Vater bestand, hatte ich mit ihm abgeschlossen. Vielleicht hätte mich sein Tod berührt, wenn er mich irgendwann um Verzeihung gebeten hätte. Stattdessen versuchte er, mir noch vor seinem Tod zu schaden. Die Möglichkeiten dazu hatte er längst nicht mehr, doch für mich hat sich damit der Kreis geschlossen. Mein Vater starb – wie meine erste Pflegemutter - in dem Monat, als mein Buch erschien. Er war vom Krebs zerfressen.
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Haben Sie heute noch Kontakt zu Menschen aus Ihrer Kindheit und Jugend?
Nur zu wenigen. Als ich Menden mit 18 Jahren verlassen habe, war das nicht nur ein Ortswechsel für mich. Ich brauchte eine echte Trennung, da es ja insbesondere auch die Menschen aus dem Umfeld meines Vaters und der Pflegefamilien waren, die weggesehen oder die Täter sogar aktiv gedeckt haben. Ich war danach nur wenige Male in Menden – entweder wegen meines Bruders oder weil etwas mit dem Grab meiner Mutter geregelt werden musste. Vor einigen Jahren habe ich das Grab nach München verlegen lassen, zumal meine Mutter sich in dieser Stadt heimisch gefühlt hatte.
Warum haben Sie das Buch geschrieben?
Das Schreiben war eine Art Therapie, wobei es anfangs kein Buch werden sollte. Lange Zeit hatte ich versucht, alles zu verdrängen, aber das funktionierte nur bedingt und irgendwann war es überhaupt nicht mehr möglich. Außerdem möchte ich etwas gegen Kindesmissbrauch tun, und dafür braucht es Menschen, die das Schweigen brechen und über ihre Erfahrungen berichten.
Sie haben Ihr Buch unter einem Pseudonym verfasst und leben unter anderem Namen in München. Haben Sie Ihren Geburtsnamen abgelegt, um dieses Kapitel Ihres Lebens verarbeiten zu können?
Der Nachname meines Vaters, mein Geburtsname, ist mit zu vielen schlimmen Erinnerungen behaftet, abgesehen davon hatte ich eigentlich nie einen Vater. Aber ich hatte eine Mutter, daher habe ich ihren Geburtsnamen angenommen.
Sie haben Ihre Erlebnisse nicht nur als Buch veröffentlicht, sondern auch im Bericht des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM), einem Amt der Bundesregierung. Sind Sie darüber auch in Kontakt mit anderen Betroffenen?
Die Veröffentlichung meiner Geschichte im Bilanzbericht des UBSKM ging nicht von mir aus, sondern vom UBSKM. Da ich die Arbeit dieser Kommission für sehr wichtig halte und natürlich unterstützen möchte, habe ich zugestimmt. Darüber hinaus besteht auch Kontakt zu anderen Betroffenen.
Sie sind als Kind und Jugendliche misshandelt, missbraucht, vergewaltigt worden. Woher nehmen Sie Ihre Stärke, dies alles zu überleben?
Die bedingungslose Liebe meiner Mutter zu mir war auch nach ihrem Tod noch wie ein Orientierungslicht für mich. Sie hat mir geholfen, mich nie ganz aufzugeben.
Können Sie noch auf das Gute in anderen Menschen vertrauen?
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Eindeutig ja! Ich habe in meinem Leben hochanständige, empathische und charakterfeste Menschen kennengelernt, insbesondere meinen Mann. Ich glaube sogar, dass ich gerade durch die vielen negativen Erfahrungen in meiner Kindheit gelernt habe, diese Menschen herauszufiltern.
In Ihrem Buch schildern Sie immer wieder die grenzenlose Liebe Ihrer Mutter zu Ihnen und die Hoffnung, dass dadurch auch viele Jahre nach dem Tod Ihrer Mutter Ihre seelischen Wunden heilen können. Hat sich diese Hoffnung bewahrheitet?
Manche Wunden heilen nie ganz, aber ich habe gelernt, mit den Wunden zu leben und kann heute wieder glücklich sein.
Was würden Sie einem Kind raten, das sich heute in einer vergleichbaren Situation befindet?
Meine Situation war ja, dass ich als Kind trotz mehrfacher Hilferufe bei den entsprechenden Stellen keine Hilfe erhielt. Kindern kann ich daher leider nur raten, nicht aufzugeben, wenn sie abgewiesen werden, und sich an andere Kinderschutzeinrichtungen oder Vertrauenspersonen zu wenden. Wichtig ist, dass sie sich nie einreden lassen, dass missbräuchliches Verhalten normal oder ihre Schuld sei.
HINTERGRUND:
Die Mendenerin hat unter dem Pseudonym Svenja Wagnerdas Buch „Und ich musste bleiben“ über ihre Kindheit und Jugend in der Hönnestadt geschrieben. Die heute 52-Jährige schildert ein jahrelanges Martyrium, wurde geschlagen, körperlich und psychisch misshandelt, missbraucht.
Der Vater habe, so schreibt Svenja Wagner, ihre Mutter – sie war der einzige Lichtblick im Leben des Mädchens – in die Depression getrieben. Diese nimmt sich das Leben, als Svenja zwölf Jahre alt ist.
Ihr Leben ist ein einziger Albtraum: Der Vater schlägt sie immer wieder, vermittelt ihr permanent, dass sie unerwünscht sei, die boshafte Stiefmutter erfreut sich an Gemeinheiten. Die Pflegeeltern, bei denen sie zwischenzeitlich wohnt, stehen dem Vater in nichts nach: Der erste Pflegevater missbraucht sie immer wieder, der zweite vergewaltigt sie. Der unmittelbare Albtraum endet erst, als Svenja 18 Jahre alt ist. Das Trauma hat Spuren hinterlassen – gegen die sie mit viel Energie ankämpft. Heute lebt die gelernte Personalkauffrau mit ihrem Ehemann – „meinem Seelenverwandten“, wie sie in ihrem Buch schreibt – in ihrer Wahlheimat München.
Svenja Wagner: Und ich musste bleiben. Bastei Lübbe. ISBN: 978-3-404-60963-5. 10 Euro