Menden. Carmen und Wilfried sind Alkoholiker – viele, viele Jahre. So haben sie in Menden Hilfe gefunden und sich von ihrer Sucht befreit.

Viele Jahre wollte Carmen es nicht wahrhaben, dass sie Alkoholikerin ist. Ähnlich erging es Wilfried. Im Rückblick wissen beide, dass sie damals nicht ohne Alkohol leben konnten. Heute sind die beiden trocken.

Wilfried war mit neun Jahren zum ersten Mal betrunken

Wilfried* kann sich daran erinnern, dass er mit neun Jahren zum ersten Mal betrunken war. Auf einer Hochzeitsfeier seines Onkels servierte der Mendener als kleiner Junge Likör: „Da habe ich gemerkt, dass man die Reste zusammenkippen kann und dass sich irgendwann ein schönes Gefühl einstellt.“ Und von diesem „schönen Gefühl“ wollte er gerne mehr: „Und es war ja auch kein Problem, sich Alkohol zu besorgen.“

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Mit 16 wurde er Mitglied in einem Männergesangverein: „Und weil ich schon damals groß und kräftig war, durfte ich in der Kneipe in Menden auch Bier trinken, weil ja Erwachsene dabei waren.“ Er habe sich besser, leichter, entspannter gefühlt, erinnert sich Wilfried: „Und das Reden klappte besser. Und ich hab‘ mich dann getraut, Mädchen anzusprechen.“

„Aber so viel Bier, wie ich gebraucht hätte, hätte ich gar nicht trinken können. Das wäre viel zu viel Flüssigkeit gewesen.“

Wilfried
Trockener Alkoholiker

Später, im Berufsleben, brauchte Wilfried immer mehr Alkohol. Der Kasten Bier stand ohnehin in der Werkstatt, erinnert sich der Autoschlosser. „Aber so viel Bier, wie ich gebraucht hätte, hätte ich gar nicht trinken können. Das wäre viel zu viel Flüssigkeit gewesen.“ Und so sei er auf Wodka gekommen, „macht auch kaum eine Fahne“. Schon morgens, um auf die Beine zu kommen und in den Tag zu starten, habe er einen Flachmann dabeigehabt: „Den brauchte ich, um zu funktionieren.“

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Je mehr Wilfried brauchte, desto herausfordernder wurde sein Alltag: „Da steckt ja die ganze Beschaffungs- und Entsorgungslogistik dahinter.“ Denn er wollte den Schnaps natürlich nicht im Supermarkt um die Ecke kaufen, das wäre zu auffällig gewesen. Also steuerte er verschiedene Tankstellen an. Und er konnte die Flaschen auch regulär entsorgen: „Wenn das jemand gesehen hätte, dann hätte der Bescheid gewusst. Ich wollte ja nicht, dass meine Familie weiß, wie viel ich trinke.“ Also suchte er sich öffentliche Mülleimer oder eine Schnapsflasche landete in der Sorge vor Entdeckung auch mal im Wald. Zudem ging der große Alkoholkonsum kräftig ins Geld.

„Papa, das war schlimm gestern. Meinst du nicht, dass du krank bist?“

Wilfrieds Tochter nach einem besonders schlimmen Absturz ihres Vaters
Ein Mann trinkt am Abend aus einer kleinen Flasche Schnaps (Symbolbild). Wilfried war viele Jahren alkoholabhängig.
Ein Mann trinkt am Abend aus einer kleinen Flasche Schnaps (Symbolbild). Wilfried war viele Jahren alkoholabhängig. © dpa | Soeren Stache

Sein Tiefpunkt war, als seine Tochter „nach einem richtigen Absturz“ eines Morgens im Türrahmen stand, ihren Vater anschaute und zu ihm sagte: „Papa, das war schlimm gestern. Meinst du nicht, dass du krank bist?“ Das war Wilfrieds Augenöffner. Bis dahin habe er Alkoholabhängigkeit mit Charakterschwäche verbunden: „Ich wollte nicht das Stigma des Alkoholikers tragen. Aber Kranksein, das war etwas völlig anderes für mich.“

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Wilfrieds Tochter suchte die Nummer der Anonymen Alkoholiker aus der Zeitung heraus, zwei Tage später saß er in seinem ersten Meeting: „Das ist jetzt 20 Jahre her.“ Den Entzug habe er zu Hause durchgestanden: „Ich war im Delirium. Da sieht man Ratten und Mäuse über die Wand laufen.“ Seither hat der Mendener keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt: „Und mein Leben hat sich komplett verändert.“ Sein Kopf sei plötzlich „frei“ gewesen, „wie seit vielen Jahren nicht mehr“.

Carmen war viele Jahre alkoholabhängig (Symbolbild).
Carmen war viele Jahre alkoholabhängig (Symbolbild). © picture alliance / imageBROKER | Uwe Umstätter

Spiegeltrinker und Quartalstrinkerin

Auf eine noch längere Abstinenz kann seine Freundin Carmen* zurückblicken. Sie ist seit 28 Jahren trocken. Anders als Wilfried – er sagt über sich, dass er ein so genannter Spiegeltrinker gewesen sei – war sie eine Quartalstrinkerin: „Ich habe zwischendurch tage-, wochen- oder sogar monatelang keinen Alkohol getrunken.“ Dann aber sei sie irgendwann wieder so richtig abgestürzt: „Man denkt, man hat das unter Kontrolle. Dann trinkt man erst einen Schluck, dann ein Glas, dann immer mehr. Ich bin nie losgezogen in der Absicht, mich zu besaufen.“ Aber dennoch endeten viele Abende genau so – und mit Krankenhaus-Aufenthalten. „Das verselbstständigt sich irgendwann.“

Persönlicher Tiefpunkt

Vor 28 Jahren, nach einem besonders schlimmen Abend, hatte Carmen das Gefühl: „Das überlebe ich vielleicht nicht. Das war mein persönlicher Tiefpunkt.“ Sie habe in jener Nacht eine Art Traum gehabt: Jemand habe zu ihr gesagt: „Komm‘, wir gehen hier weg.“ Und zum ersten Mal in ihrer Zeit als Alkoholikerin beschloss Carmen aus eigenem Antrieb, dass sie nicht mehr trinken wollte: „Ich sage nicht: ,Ich darf das nicht.‘ Sondern: ,Ich bin dankbar dafür, dass ich das nicht mehr muss‘.“ Auch sie suchte sofort den Kontakt zu den Anonymen Alkoholikern und ist bis heute dabei. Für sie habe damals festgestanden: „Ich wollte nicht nur überleben, ich wollte leben.“

„Wir alle teilen das Gefühl, nicht dazuzugehören. Wir sind anders. Heute ist uns das total egal.“

Carmen
Trockene Alkoholikerin

Ähnlich wie bei Wilfried gibt es bei Carmen nicht ein einzelnes Ereignis, das die Sucht auslöste: „Das ist eine Summe von Ereignissen“, erklärt Wilfried. Die Suche nach Ursachen sei müßig und helfe ihnen nicht weiter. „Hinzu kommt die Vorbildfunktion von Eltern, Verwandten, Freunden, da schaut man sich als Kind viel ab“, ergänzt Carmen. „Wir alle teilen das Gefühl, nicht dazuzugehören. Wir sind anders.“ Das sei heute immer noch so, allerdings: „Heute ist uns das total egal.“

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Auch wenn sie schon so viele Jahre trockene Alkoholiker sind, vergessen Carmen und Wilfried nicht, dass „diese Krankheit in uns ist. Wir haben sie zum Stillstand gebracht, aber sie ist nicht heilbar.“ Deshalb haben beide in ihren Familien, im Freundes- und Bekanntenkreis kommuniziert, dass sie Alkoholiker sind. Und wenn sie einkaufen gehen, wird jede Verpackung genau unter die Lupe genommen, ob nicht doch irgendwo kleinste Mengen Alkohol enthalten sind. Das könne beispielsweise bei Süßigkeiten, aber auch bei manchen Getränken, bei denen man es nicht erwarten würde, vorkommen.

„Der Rückfall fängt im Kopf an“, sagt Carmen. Deshalb komme es für beide auch nicht in Frage, alkoholfreies Bier oder alkoholfreien Wein zu trinken: „Es gibt viele Alkoholiker, die danach sagen, dass sie jetzt dann doch das richtige Bier oder den richtigen Wein haben wollen.“

Carmen und Wilfried wollen gemeinsam „uralt werden“

Der Termin der Gruppentreffen der Anonymen Alkoholiker steht fest im Kalender von Carmen (74) und Wilfried (73), aus denen mittlerweile auch ein Paar geworden ist. Der große Herzenswunsch der beiden ist es, „dass wir gemeinsam uralt werden“, sagen sie. Jeden Montag treffen sich die Anonymen Alkoholiker in Menden. Die Anonymen Alkoholiker arbeiten nach dem „Zwölf-Schritte-Programm“. Eine wichtige Rolle im Leben der beiden spielt auch das so genannte Gelassenheitsgebet:

„Gott, gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

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Kontakt und weitere Infos: Die Anonymen Alkoholiker treffen sich montags zwischen 18 und 19.45 Uhr im Walburgisstift in Menden. Das nächste Treffen findet am 5. August statt. Weitere Infos unter: 02373-74837.

*Auch wenn Carmen und Wilfried im Freundes- und Bekanntenkreis sowie gegenüber ihren Familien offen mit ihrer Erkrankung umgehen, haben die beiden darum gebeten, zum Schutz ihrer Persönlichkeit ihre Nachnamen nicht zu veröffentlichen.