Schönau. Carmen Henn aus Schönau ist 35 Jahre alt. Krebs hat ihr Bein zerfressen. Doch sie will den Rekord im Stand-Up-Paddling brechen - mit Prothese.

Er hat den ganzen Unterschenkel zerfressen. Der Krebs, der jahrelang in ihrem Körper gewachsen ist. Ganz heimlich und leise – so dass kein Arzt ihn entdeckt hat. Bis zu diesem Tag im Oktober.

Carmen Henn weiß es noch genau. Sie saß dem Radiologen gegenüber, sah ihm in die Augen. Etwas stimmte nicht. Da war dieses Zögern in seinem Blick. Dieses ungläubige Wissen. Gleich wird er ihr die Diagnose mitteilen. Ihr sagen, dass ein 20 Zentimeter großer Tumor in ihrem Bein sitzt. Chemo- und strahlenresistent. Eigentlich ein Todesurteil.

Doch die 35-jährige Frau lebt. Ihr Bein hat sie verloren, ihren Mut hingegen nicht. „In dem Alter wollte ich mir die Radieschen noch nicht von unten ansehen“, sagt sie und lacht. „Zumal das auch echt langweilig wäre.“ Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt sie, wie sie bald sogar den Weltrekord im Stand-Up-Paddling brechen will.

Immunsystem arbeitet nicht mehr richtig

Die Geschichte von Carmen Henn beginnt im Jahr 2013. Eigentlich geht es ihr gut. Ihr Sohn Jeremy ist fast zehn Jahre alt, es gibt Hochzeitspläne mit ihrem Thorsten. Doch die junge Mutter kränkelt. Die Grippe hat sie erwischt. Mal wieder. Auffällig häufig in letzter Zeit. Es folgen eine Mittelohrentzündung, ein Magen-Darm-Infekt, eine Bronchitis, eine Bindehautentzündung. Die Ärzte nehmen sie schon nicht mehr ernst. Sogar ihren Job verliert sie, weil sie zu häufig fehlt. Irgendwie scheint ihr Immunsystem nicht richtig zu arbeiten.

Doch das ist nicht alles. Kurz vor den Sommerferien 2014 knickt Carmen Henn um. Sie kennt das schon. Ein Dauerzustand. Genau wie diese seltsamen Wadenkrämpfe. Die Schönauerin greift zu Magnesium-Brause-Tabletten. Das wird schon helfen, denkt sie sich. Aber es kommt anders. Ihr Fuß ist mittlerweile so dick, sie kann kaum laufen. Sie geht zum Arzt, ein Röntgenbild muss her. Dieser Blick des Mannes, der ihr dann erklärt, dass da etwas nicht stimmt. Eine Mischung aus Überraschung und Mitgefühl. Denn dort, wo eigentlich das Schienbein sein sollte, ist lediglich Knochenhaut.

20 Zentimeter großer Tumor

Carmen Henn macht mit ihrer Prothese Sport.
Carmen Henn macht mit ihrer Prothese Sport. © WP | Privat


Ein Schock. Der gesamte Unterschenkel existiert praktisch nicht mehr. Stattdessen macht sich dort ein 20 Zentimeter großer Tumor breit. „Ich dachte mir, das Schicksal ist ein verdammt mieser Verräter“, erinnert sich Henn. „Aber erst mal Ruhe bewahren, tief durchatmen und ein Bierchen trinken.“

Irgendwie weiß sie es damals schon, dass das Bein ab muss. Woher auch immer. Vielleicht, weil etwas, das mit solcher Vehemenz auf ihre Gesundheit einprügelt, einfach nichts Gutes sein kann. Sechs bis acht Jahre ist er in ihr gewachsen, wie ihr die Ärzte später sagen. Sechs bis acht Jahre. Und rückblickend erklärt sich so vieles.

Carmen Henn ist in Sachsen-Anhalt geboren und in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen. Zwischenzeitlich hat sie mal in Köln gelebt und wohnt seit 2011 in Schönau.

Raus aus der Heimatstadt, das ist ihr Ziel. Auf eigenen Beinen stehen. Weg von der Familie. Mit 15 geht sie in ein Heim. Sie muss, sie hat schon zu lange gewartet. Ihre Eltern sind Alkoholiker. Und es ist nicht nur die Sucht, mit der sie ihre Tochter quälen. Sie vergreifen sich an ihrem Kind, missbrauchen es – körperlich und sexuell. „Papa hat gemacht, Mama hat Fotos gemacht“, sagt Carmen Henn trocken. Mit 16 zeigt sie ihre Eltern an. Der Vater geht für zwei Jahre in den Knast, die Mutter bekommt ein halbes Jahr auf Bewährung. Aufgrund des Alkoholkonsums sei sie nicht zurechnungsfähig gewesen, heißt es.

Dann kommt die Diagnose

Weg. Egal wohin. Einfach nur weg. 2002 setzt sich Carmen Henn in einen Zug. Damals ist sie 18 Jahre alt. Sie fährt bis zur Endstation. Köln Hauptbahnhof. Eine Weile ist sie obdachlos. Doch das nimmt sie in Kauf, baut sich einen Freundeskreis auf, findet ein WG-Zimmer, macht eine Ausbildung zur Alten- und Heilerziehungspflegerin. Dann holen Depressionen sie ein. Sie hält sie für Spätfolgen. Eine Reaktion ihres Unterbewusstseins auf ihre Kindheit. „Heute weiß ich, dass das damals vermutlich schon mit dem Krebs zusammenhing“, sagt Henn. 2012 lernt sie ihren Mann kennen. Es geht bergauf. Endlich. Hochzeit im Jahr 2013. Ein Jahr bevor sie dem Radiologen gegenübersitzt.

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Die Operation ist am 19. November 2014. Ein Mittwoch. Eine Reihe von Tests liegen mittlerweile hinter ihr. Ein Speziallabor hatte das endgültige Ergebnis geliefert. Adamantinom. Der bösartigste und seltenste Krebs, den es gibt. Chemo- und strahlenresistent. Eigentlich tödlich. Und dann ist er da, der OP-Tag.

Carmen Henn liegt im Krankenhaus. Gleich wird der Narkosearzt kommen. „Ich habe da nicht viel drüber nachgedacht. Mein Bein kann ich ersetzen, mein Leben nicht. Nur eine Bedingung hatte ich. Ich wollte eine schwarz-pinke Prothese“, sagt Henn und fügt hinzu: „Der Blick des Arztes war göttlich.“ Sie bekommt ihren Willen. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr noch nicht klar, dass Prothesen bald nicht nur eine Gehhilfe für sie sein werden.

Vom Praktikum zur Umschulung

Der Knochen war kurz vorm Brechen. Das erfährt die heute 35-Jährige nach der OP. Nachdem sie das erste Mal die Bettdecke beiseite gezogen hat und realisiert hat, dass ihr rechtes Bein wirklich weg ist. Zwei bis vier Wochen später und sie wäre tot gewesen, heißt es. Zwei bis vier Wochen. Dann wäre der Knochen pulverisiert in ihre Blutbahn gelangt – samt den Krebszellen. Das hätte sie nicht überlebt. Glück im Unglück. Und Carmen Henn greift nach der Chance. „Ich habe mich doch nicht in den letzten zehn Jahren hochgearbeitet, um mich dann vom Krebs unterkriegen zu lassen“, sagt sie.

Natürlich ist die Umstellung groß. Vor allem zu Beginn, als die Prothese noch nicht richtig passt. Sie stürzt häufig, ist frustriert. So kommt sie das erste Mal zu Schindler Orthopädie in Siegen. Dort lässt sie sich beraten. Nicht nur das. Im April 2018 macht sie ein Praktikum. Im August startet sie die Umschulung zur Orthopädietechnikerin. Heute baut sie Prothesen, liebt ihren Job, das Leben. Und den Sport. Trotz Amputation macht sie bei Extrem-Hindernisläufen mit, macht Taekwondo.

Ihr großes Ziel ist es, den Weltrekord im Stand-Up-Paddling zu brechen. Der liegt derzeit bei 24 Stunden. Drei Stunden schafft sie schon. Aber Carmen Henn wird kämpfen. Und gewinnen. Da ist sie sich sicher. Eine starke Frau, die sich durch nichts unterkriegen lässt. Nichtmal von einem 20 Zentimeter großen Tumor.