Herdecke. Zwei Schlaganfälle, Koma, kaum Überlebenschancen: Dr. Bernd Krahl kämpfte sich zurück ins Leben und hilft heute anderen im Ambulanticum Herdecke.
Der Wunsch: Die Welt für Menschen zu einem besseren Ort zu machen. Das treibt Bernd Krahl an. Der promovierte und approbierte Mediziner übt seinen Beruf mit Begeisterung aus. Das war auch schon früher der Fall. „Ich hatte dank meiner Familie und meiner Arbeit ein erfülltes Leben, ich war zufrieden“, sagt der 72-Jährige. Der ehemalige Zahnarzt war an mehreren Firmen beteiligt, gehörte zu einer Praxisgemeinschaft und kümmerte sich um Immobilien. Lebensmittelpunkt Hagen, dazu Arbeit in Gevelsberg.
„Ich war eigentlich immer auf der Überholspur“, meint er rückblickend. „Es war zu viel. Als Mediziner dachte ich mir: Man selbst wird ja nicht krank.“ Dabei gab es Vorboten für das, was Krahls Leben radikal ändern sollte. Wobei die Betonung auf Leben liegt. Die „Parlamentäre der Krankheit“ (O-Ton Krahl) stellten sich vor: ein kleiner Herzkasper und vor allem ein schwerer Autounfall. Den hatte eine Synkope ausgelöst. Da die Polizei Alkohol als Ursache für die Fahrt an die Mauer mit anschließender Bewusstlosigkeit vermuteten, untersuchten die Ärzte Krahl nicht auf Schlaganfall-Symptome. Bei einem Besuch in Prag im Frühjahr 2007 war Krahl kurzzeitig blind, später beklagte er linksseitige Lähmungserscheinungen. Geht ein Arzt zum Arzt? Die Antwort erübrigt sich.
Geringe Überlebenschance
Juli 2007. Schlaganfall. Krankenhaus. Fünf Tage später Krankentransport von Hagen nach Bochum. „Auf der Fahrt trübte er ein“, erzählt Marion Schrimpf, seine Lebensgefährtin. Operation. Gut verlaufen. Nachmittags wieder Eintrübung. Kurz darauf der nächste Schock. Sechs Tage, zwei Schlaganfälle. Koma. Einschätzung der Ärzte: zehn Prozent Überlebenschance, eher keine. Zeit zum Abschiednehmen. Als Schwerstpflegefall ohne kognitive Fähigkeiten kam Bernd Krahl nach Hause. Bett oder allenfalls Rollstuhl als Dauerperspektive.
Das wollten er und seine Lebensgefährtin nicht hinnehmen. Sie entschieden sich zu kämpfen, den Mut aufzubringen, die gestellte Diagnose zu ignorieren. „Ich sagte mir: Jetzt starten wir durch, in dem Zustand und in dieser Abhängigkeit will Bernd bestimmt nicht leben“, so Marion Schrimpf.
Lokomat und Therapie-Erfolge
Sie setzte sich an den Computer und suchte nach der besten Reha. Die sechsmonatige Therapie daheim brachte nichts. Nach einem Jahr empfahl ein Neurochirurg dem Paar: ab nach Portugal. „Die Algarve war ohnehin so etwas wie unser zweites Zuhause, wir erhofften uns dort Erholung und therapeutische Fortschritte gleichermaßen. Und nach vier Wochen hat er die ersten Schritte gemacht“, sagt Schrimpf.
Für ihren Partner war das der Durchbruch. Doch der Kampf zurück ins Leben ging weiter. In der Schweiz kam er in Kontakt mit einem Lokomaten, ein robotik-gestütztes Therapiegerät zur Ganganbahnung. „Das hat mich wieder zum Laufen gebracht, für mich war das ein Schlüsselmoment“, sagt Krahl.
Von 2009 bis 2011 ging die Reha in Meerbusch vor allem am Lokomaten weiter. Bernd Krahl kämpfte sich durch. Jahrelang. „Ich wollte mein Leben nicht auf die Krankheit reduzieren und noch mehr von der Welt sehen. In mir kam eine eher primitive Empfindung hoch: Trotz!“ Er war – wie auch seine Lebensgefährtin – zu jener Zeit nicht immer fröhlich gestimmt, auch wenn sich sein Zustand besserte. Das Ausmaß der Krankheit wurde ihnen bewusst, nie wieder würde er als Zahnarzt arbeiten können. „Ich war oft niedergeschlagen, auch wenn ich in Portugal meinen Kompass wiedergefunden hatte. Ich stand quasi an der Klippe und wollte springen, doch mir war das Wasser zu kalt.“ Und: „Aufgeben war nie eine Alternative. Das Leben ist zu kurz, um zu sterben.“ Also machte der Mediziner weiter und wandelt seine Krankheits- in eine persönliche Erfolgsgeschichte um.
Krahl nennt einen Schlaganfall hinterhältig. Dieser nutze quasi jede Chance, um zuzuschlagen. Also kämpfen. Bei dem Mediziner kam der Gedanke auf: Ich will nicht nur mir, sondern auch anderen mit neurologischen Erkrankungen helfen. Daher strebte er eine therapeutische Einrichtung für Hirninfarkt-Patienten an. Dann standen Zufall und Glück Pate: Ein Haus am Herdecker Nacken war frei. Dort gründete das Paar nach dem Erwerb des Gebäudes das Ambulanticum im März 2012. Ziel und Wunsch: die Welt dort für Menschen vom Schlage Krahls zu einem besseren Ort zu machen.
Rückschläge für Therapie-Einrichtung Ambulanticum
Aus ihrem Umfeld gab es Zuspruch und Skepsis, dazu Rückschläge etwa bei Personalfragen oder finanziellen Verhandlungen. „Die eigentliche Entscheidung zum Hauskauf musste damals schnell gehen, die fiel aus dem Bauch heraus, wir hatten keinen Business-Plan. Wir waren mutig, ohne Hasardeure zu sein.“ Klar war und ist für Bernd Krahl: „Für so etwas wie das Ambulanticum muss man brennen, und das ist bei uns bis heute der Fall.“ Doch eineinhalb Jahre nach der Gründung stand das Ambulanticum kurz vor der Insolvenz. Das Paar steckte das gesamte Privatkapital in die Einrichtung und setzte alles auf eine Karte.
Die Krise ist heute überwunden. Gerade Patienten, die die Schulmedizin abschreibt, will Marion Schrimpf Hoffnung machen. „Die sollen bei uns wieder gehen lernen. Wir wollen den Beweis antreten, dass wir Menschen auch in einer scheinbar aussichtslosen Situation wieder herstellen können.“ Ihnen berichtet Bernd Krahl oft, wie er sich zurück ins Leben kämpfte. „Ich erzähle meine Geschichte gerne, aber immer wieder anders“, sagt der 72-Jährige spitzbübisch.
Positiv denken
Krahl hat sich an seine Einschränkungen vor allem in Sachen Mobilität gewöhnt, respektiert diese, führt jetzt halt ein anderes Leben, ist authentisch. Aber immer noch selbst-bestimmt. Er lebt nach eigenen Angaben im Hier und Jetzt mit Blick voraus. Manchmal befürchtet er, dass er stürzen könnte. Grundsätzlich aber sagt er: „Wovor soll ich noch Angst haben? Ich bin heute dankbarer als früher und denke nach meinen zwei Schlaganfällen positiver.“ Seine Lebensgefährtin lächelt. „Er hält sich für unkaputtbar“.