Bochum. Der Flüchtlingsrat NRW hält dagegen. Chefin Birgit Naujoks sagt: Zu Missbrauch rät keiner. Zu Fristen informieren, das gehört dazu.
Politiker schimpfen nach dem Terroranschlag von Solingen auf Helfende, die angeblich beraten, wie man das Asylsystem unterläuft. Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW hält dagegen.
Ministerpräsident Hendrick Wüst sprach von Schlupflöchern im Asylsystem, „die ausgenutzt werden von fachkundig beratenen Leuten“. Beraten Hilfsorganisationen, wie Abschiebungen umgangen werden können?
Naujoks: Das Land selbst fördert ein System der sozialen Beratung. Und für dessen einzelne Säulen ist klar festgelegt, in welchem Rahmen beraten werden darf. Manche Organisationen machen nur soziale Beratung, in anderen Fällen werden Verfahrensabläufe erläutert. Zu dieser Verfahrensberatung gehört es zum Beispiel, auf Fristen hinzuweisen – aber natürlich nicht im Sinne von Missbrauch. Niemand sagt: Du kannst dich dem entziehen, wenn du untertauchst. Natürlich kann ich nicht für alle Beratungsstellen sprechen, aber diejenigen, die uns gut bekannt sind, halten sich an den gesteckten Beratungsrahmen. Unter Umständen findet eine rechtliche Einordnung statt, aber eine Rechtsberatung ist das nicht. Die findet bei Rechtsanwälten statt.
Wer bezahlt die?
Dafür gibt es die Prozesskostenhilfe. (Anm. d. Red.: Damit diese bewilligt wird, muss die Behörde eine Aussicht auf Erfolg sehen und das Vorgehen darf nicht mutwillig erscheinen.) Es gibt außerdem bei den Kirchen und zum Beispiel bei Pro Asyl kleine Töpfe, aus denen Zuschüsse für Anwaltskosten gezahlt werden, in geprüften Einzelfällen.
Welche legalen Möglichkeiten gibt es, eine Abschiebung zu umgehen?
Keine. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe sind dafür da, um sie zu nutzen. Wenn Gründe auftauchen, die einer Abschiebung im Wege stehen – sei es Krankheit oder eine Beschäftigung oder ein Ausbildungsangebot – dann werden sie geltend gemacht, und die Ausländerbehörde prüft das. Dies ist das ganz normale Rechtssystem.
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Der Tatverdächtige von Solingen war offenbar nicht auffindbar, als er abgeschoben werden sollte.
Das liegt an einem Denkfehler des Gesetzgebers. Der hat 2015 festgelegt, dass Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden – die Menschen sollen ja nicht untertauchen. Tatsächlich ist es oft umgekehrt: Weil die Menschen den Termin nicht kennen, halten sie sich selbstverständlich irgendwo auf. Sie haben keine Verpflichtung, zu einer Zeit an einem bestimmten Ort zu sein.
Im Fall Solingen spricht viel für ein geplantes Unterlaufen des Asylsystems. Der Verdächtige hat sich gemeldet, als die Überstellungsfrist nach Bulgarien vier Tage abgelaufen war. Er scheint sich der Frist bewusst gewesen zu sein.
Die Details des Einzelfalls sind mir nicht bekannt. Aber als ich las, dass der Mann untergetaucht sei, war ich verwundert, dass das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) die Überstellungsfrist nicht verlängert hat. Wenn das BAMF vermutet, dass jemand flüchtig ist, kann es die Frist von sechs auf achtzehn Monate verlängern. Entweder ging man also davon aus, dass der Mann nur gerade nicht da war. Oder das BAMF hat die Fristverlängerung schlicht versäumt.
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Ist das Wissen um solche Schlupflöcher Allgemeingut unter Betroffenen?
„Untertauchen“ ist kein Schlupfloch, sondern bedeutet, ein Leben in der Illegalität zu führen. Man kriegt keine Leistungen, man kann gar nichts machen. Das machen einige Menschen aus großer Verzweiflung. Selbst gesetzt den Fall, dass viele Betroffene vom Selbsteintritt Deutschlands nach Ablauf der Überstellungsfrist Kenntnis haben, ist ein „Untertauchen“ für die meisten nicht vorstellbar oder umsetzbar.
Würde eine effektivere Abschiebepraxis die Akzeptanz des Systems erhöhen?
Meines Erachtens nicht. In diesem Fall hätte Bulgarien dann das Problem gehabt, aber damit wäre es nur verschoben. Das Entscheidende ist doch, dass ein Mensch so radikalisiert war, dass er bereit war zu töten. Auch die Zahlen, mit denen immer gespielt wird, stimmen oft nicht. Es geht nicht um 243.000 Menschen, die angeblich abgeschoben werden müssten. Davon sind rund 194.000 geduldet, zum Beispiel, weil sie eine Ausbildung machen oder arbeiten oder aus familiären Gründen. Es bleiben also rund 50.000 Menschen übrig, die abgeschoben werden könnten. Und das sind auch nicht alle abgelehnte Asylsuchende. Es sind Menschen darunter, deren Aufenthaltserlaubnis ausgelaufen ist, weil sie ihr Studium nicht in der Regelstudienzeit beendet haben. Oder weil sie frisch geschieden sind und noch kein Anspruch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht besteht.
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Steht sich der Staat selbst im Weg?
Ich bin keine gute Tippgeberin für bessere Abschiebungen. Aber klar ist: Die Maßnahmen, um die so großes Aufhebens gemacht wird, führen nicht zu einer verschärften Abschiebungspraxis. Der Gesetzgeber selbst schätzt, dass es durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückkehr nur zu 600 Abschiebungen mehr im Jahr kommen kann. Denn die inländischen Hindernisse wie Bürokratie und Zuständigkeiten sind das eine. Das weitaus größere Problem ist die fehlende Kooperation der Aufnahmeländer. Das gilt für Europa ebenso wie für die Herkunftsländer. Italien hat dieses Jahr gesagt, wir sind im Notstand, wir nehmen keinen einzigen zurück. Migrationsabkommen werden eher ein Hebel sein, dass die Zahl der Abschiebungen steigt.