Essen. Der Essener Jurist Thorsten Dercar berät Mandanten, denen die Abschiebung droht. „Sparen Sie sich einen Polizeieinsatz in der Nacht!“
Die Asylgeschichte des mutmaßlichen Terrortäters von Solingen legt Verfahrensfehler offen. Ministerpräsident Hendrik Wüst sprach von „Schlupflöchern im Asylsystem, die ausgenutzt werden von fachkundig beratenen Leuten“. Meinte er mit solchen Beratern den Berufsstand der Fachanwälte für Migration, wie es sie in Deutschland seit 2015 gibt? Wir sprachen mit dem Essener Rechtsanwalt Thorsten Dercar, der seit vielen Jahren im Ausländerrecht tätig ist.
Wie helfen Sie den Menschen, die zu Ihnen kommen?
Thorsten Dercar: Wir haben mehrere Hundert Mandanten im Jahr, viele kommen bald nach ihrer Ankunft in Deutschland. Wir helfen ihnen mit ihrem Asylantrag. Meist wird der allerdings abgelehnt: wegen der Dublin-Regeln oder weil es ein Visum für einen anderen Schengen-Staat gab. Im Dublin-Fall haben wir eine Woche, in anderen Fällen zwei Wochen Zeit zu klagen und zusätzlich einen Eilantrag zu stellen, damit die Klage eine aufschiebende Wirkung hat.
Eine Ablehnung ist der Normalfall?
Ein Anerkennungsbescheid ist tatsächlich äußerst selten. Weit über die Hälfte der Verfahren verlieren wir. Im Asylrecht lernt man zu verlieren. Viele Menschen kommen ohne eine Chance auf ein Bleiberecht. Das sagen wir ihnen aber auch, wir können nicht jedem versprechen, dass alles gut wird.
Der Ministerpräsident sprach von „Schlupflöchern“ im System: Zeigen Sie Ihren Mandanten diese?
Zu illegalen Auswegen würden wir niemals raten. Nicht dazu, sich etwa eine Frau zu suchen, nicht dazu unterzutauchen – das wäre übrigens ein Haftgrund. Wir arbeiten auf dem Boden des Gesetzes. Ich erfinde auch keine Asyl- oder Fluchtgeschichten; ich arbeite nur mit dem, was die Mandanten mitbringen. Der Zugang zum Recht muss auch jemandem gewährt werden, der meint, einen Anspruch auf Asyl zu haben.
Was raten Sie den Menschen also?
Mein Credo ist, wenn sie früh genug hier sind und wir den Kontakt zu den Behörden haben, ist das immer besser. Wenn einer nicht kooperiert, ist die Gefahr einer Abschiebung größer. Wenn es indes keine Erfolgsaussichten mehr gibt, dann raten wir, freiwillig auszureisen: Sparen Sie sich einen Polizeieinsatz in der Nacht, bei dem Sie Ihre Sachen schnell in Säcke packen müssen.
Haben Sie das schon erlebt?
Es passiert. Es ist nicht Alltag, aber neulich bekam ich tief in der Nacht den Anruf eines Mandanten: Die Polizei hatte ihn abgeholt, zum Flughafen gebracht. „Die schieben mich ab.“ In diesem Fall hat das Gericht meinem Eilantrag stattgegeben: Der Mann hat zwei Kinder, die ein Recht haben, mit ihrem Vater aufzuwachsen. Das Verwaltungsgericht sah das ebenso, der Vater wurde noch am selben Tag wieder zurückgebracht. 70 Prozent der Gerichtsbeschlüsse bei Abschiebungen sind fehlerhaft. Da gibt es viel, viel zu tun.
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Wer bezahlt Ihren Einsatz?
Fast alle Mandanten zahlen selbst, oft hilft die Familie. Die Verwaltungsgerichte genehmigen selten eine Prozesskostenhilfe, schon wegen der häufig mangelnden Erfolgsaussichten. Wenn man einen Prozess gewinnt, zahlt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Anders ist es nach dem neuen „Rückführungsverbesserungsgesetz“, das im Februar verabschiedet wurde. Darin wurde zusätzlich festgelegt, dass Menschen in Abschiebehaft verpflichtend anwaltlichen Beistand erhalten. Diese Kosten übernimmt der Staat.
Wo sehen Sie selbst Schwächen im Asylsystem?
Kein Asylgesetz oder dessen Verschärfung wird verhindern, dass sich jemand hier radikalisiert. Im Aufenthaltsrecht ist das anders. Das ist in Deutschland Stückwerk, ein Flickenteppich. Man braucht sich kein Buch darüber zu kaufen, es ändert sich sowieso ständig. Es gab zur Arbeitsmigration früher sehr ausgefeilte Paragrafen, heute reicht eine „qualifizierte Tätigkeit“, das ist ein unklarer Begriff. Und es gibt zwei verschiedene Arten der Niederlassungserlaubnis, das versteht keiner mehr. Und das sind nur zwei Beispiele von Tausenden.
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