Bochum/Dortmund. Vivien aus Bochum ließ sich als Escort für Sex mit fremden Männern bezahlen. Heute bereut sie das. Wie die 28-Jährige anderen helfen will.
Er wollte sie unbedingt sehen. Holte sie vom Bahnhof ab, fuhr mit ihr eine Stunde lang durch die Nacht. Sie fand ihn ekelig, hatte Angst vor ihm. Wusste aber auch, dass sie aus seiner Wohnung nicht so einfach wieder wegkommen würde. Die ganze Zeit dachte sie: Gleich ist es vorbei, gleich hast du das Geld. „Das war das schlimmste Treffen, das ich je hatte“, erinnert sich Vivien und zieht an ihrer Zigarette.
Die 28-Jährige sitzt auf einer Parkbank in Bochum. Ihre großen silbernen Ohrringe glitzern in der Sonne, ihre Kette rahmt das Tattoo auf ihrer Brust ein. „Sinner“, Sünder, steht dort in schwarzen Buchstaben geschrieben. Vivien hat vier Jahre lang als Escort gearbeitet. Heute, fast zwei Jahre später, bereut sie es, in die Welt von Freiern, anonymen Treffen und käuflichem Sex geraten zu sein – und will anderen Frauen beim Ausstieg helfen.
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In der selbstbestimmten Sexarbeit soll es darum gehen, dass Frauen die Kontrolle über ihren Körper und ihre Arbeitsbedingungen haben. Beliebte Online-Plattformen vermarkten den Escort-Service als feministisch und emanzipatorisch. Doch wie selbstbestimmt ist er wirklich?
Bochumerin fängt mit 22 Jahren als Escort an: „Was soll schon schiefgehen?“
Geld, das war seit Vivien denken kann, eigentlich immer knapp. Ihre Mutter war lange arbeitslos, lebte vom Staat. Hobbys waren nicht drin, Urlaub sowieso nicht. Als Vivien nach dem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Altenheim machte, habe sie nur 100 Euro von ihrem Lohn behalten dürften, der Rest sei mit den Sozialleistungen verrechnet worden. Eine Regelung, die mittlerweile abgeschafft wurde – aber Vivien damals zur Prostitution brachte. Als eine gute Freundin ihr vom Escort erzählte, dachte sie sich: Was soll schon schiefgehen?
Die damals 22-Jährige legte sich ein Profil auf einer Online-Plattform an. Eine Woche später holte sie der erste Freier am Bahnhof ab. „Ich bin sehr weit mit dem Zug gefahren, Richtung Niederrhein. Der Mann war so Ende 40, total schmierig und von sich selbst überzeugt“, erinnert sie sich. So sei von da an fast jedes Treffen abgelaufen, mal bei den Freiern zuhause, oft im Hotel. Sie alle seien älter als Vivien gewesen. Manche hätten als Manager gearbeitet, andere im Plattenbau gelebt.
Ihre engen Freundinnen und Freunde hätten gewusst, dass sie sich prostituiert. „Sie haben sich immer viele Sorgen gemacht, aber mich nie stigmatisiert.“ Vor ihrer Mutter habe sie lange geheim gehalten, womit sie ihr Geld verdient. Doch bei einem Restaurantbesuch habe Vivien auf einmal das Bedürfnis gehabt, ihr davon zu erzählen. „Meine Mutter war total geschockt und betroffen“, sagt sie. „Aber auch sie hat mich nie verurteilt und meinte, sie wird mich immer unterstützen, solange ich selbst dahinter stehe.“
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Heute sagt Vivien, dass sie damals nicht nur ihre Mutter, sondern vor allem sich selbst davon überzeugen wollte, dass sie freiwillig als Escort arbeite, jederzeit damit aufhören könne. Doch immer öfter habe sie Bauchschmerzen gehabt und das Gefühl, ihren Körper nicht mehr richtig zu spüren. Die Aufregung sei mit jedem Treffen weniger geworden, der Ekel mehr. Vor den Männern, aber auch vor sich selbst. Trotzdem machte sie weiter. Auch dann noch, als sie nach dem Studium einen Vollzeitjob begann.
Bochumerin erklärt: Warum vielen Prostituierten der Ausstieg schwerfällt
Der Ausstieg fällt vielen Prostituierten schwer. Sich im Milieu gefangen zu fühlen, dafür gibt es etliche Gründe. In Viviens Fall war es vor allem die Angst vor dem finanziellen Abstieg. „Und ich hatte lange Zeit auch nichts, bei dem ich dachte: Ich bin es mir wert, damit aufzuhören“, sagt sie. Bis sie im Winter 2022 ihren Partner kennenlernte. Beim zweiten Date erzählte sie ihm von ihrer Arbeit als Escort, nach dem fünften löschten sie gemeinsam ihr Online-Profil.
Das hätte sie schon viel früher tun sollen, sagt Vivien im Rückblick. „Ich suche die Männer aus, ich bekomme Geld dafür, ich habe die Macht. Das dachte ich am Anfang“, sagt sie. „Aber egal, wie vermeintlich selbstbestimmt man da reingeht, es wird der Punkt kommen, an dem man über seine Grenzen geht.“
Noch heute würden sie die Erinnerungen an die Treffen manchmal einholen. Wenn sie ein Muster sieht, das sie an die Bettdecke eines Freiers erinnert. Oder ein Parfüm riecht, das auch ein Kunde getragen hat. Um damit klarzukommen, ist Vivien in Therapie. Trotzdem sagt sie: „Ich war sehr privilegiert, hatte sehr viel Glück im Vergleich zu vielen anderen Frauen.“
Bochumerin will Prostituierten in Dortmund beim Ausstieg helfen
Ein Montagabend auf der Linienstraße. Dortmunds Bordellstraße liegt kurz hinterm Hauptbahnhof. Hinter einem rot leuchtenden Fenster steht eine Frau im BH und Jeans-Shorts. „Möchtest du eine Rose haben?“, fragt Vivien sie. Die Frau nickt. „Schokolade auch?“, fragt sie. „Nein, ich mache Diät“, sagt die Frau und lacht.
Vor ihr hängt ein Schild. „15 Minuten – 30 Euro“, steht darauf geschrieben. „Das ist der Standardpreis, viele Freier drücken den noch auf 20 Euro“, sagt Vivien. Sie trägt die lockigen Haare offen und eine schwarze Jogginghose. Einmal im Monat geht sie mit anderen Aktivistinnen des Vereins „Sisters“ über die Linienstraße. Spricht mit den Frauen, die hier Sex gegen Geld anbieten. Gerade läuft das Geschäft schlecht, klagen die Prostituierten.
Prostituierte auf der Dortmunder Linienstraße: „Es lohnt sich nicht mehr“
„Es lohnt sich nicht mehr. Es gibt jetzt zu viele Frauen, die für wenig Geld alles machen. Früher war das anders. Da hatten wir mehr Zusammenhalt untereinander“, erzählt die Prostituierte. Wenn sie mit ihrem Studium fertig ist, wolle sie ihr Zimmer auf der Linienstraße aufgeben.
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„Sie ist die Einzige, die wir kennen, die hier wirklich freiwillig und nur für sich selbst arbeitet, ohne Zuhälter“, sagt Vivien. Sie geht weiter zum nächsten Fenster. „Ey, wie alt bist du? 18?“, ruft ein Mann ihr zu. Ihre Augen verkleinern sich. „Wie alt du bist?“, fragt der Mann nochmal. „Merkst du nicht, dass ich nicht mit dir reden will?“, antwortet Vivien und dreht sich um. Viele Männer laufen die Linienstraß an diesem Abend auf und ab, oft in Gruppen. Einer holt sein Handy aus der Tasche, fotografiert eine Prostituierte. „Das ist hier wie im Zoo, die Männer sind super respektlos“, sagt Vivien.
„Das ist hier wie im Zoo, die Männer sind super respektlos.“
An Hausnummer 22 bleibt sie wieder stehen. „Willst du eine Rose? Oder Schokolade?“, sagt sie. Die Frau beugt sich aus dem Fenster. „Wie alt bist du?“, fragt Vivien. „23“, antwortet sie. „Hattest du schon mal einen anderen Job?“, fragt Vivien. „Nein. Immer nur das hier“, sagt sie im gebrochenen Deutsch.
„Viele Frauen sagen, dass sie gerne etwas anderes machen wollen. Aber sie wissen nicht, wie sie aufhören sollen“, sagt Vivien. Sie wolle ihnen ein paar unbeschwerte Minuten schenken. Und ihnen zeigen, dass es noch ein anderes Leben gibt. Ein Leben nach der Prostitution.
Das Nordische Modell
Vivien und die Aktivistinnen von „Sisters e.V.“ setzen sich für ein Sexkaufverbot ein, auch bekannt als das „Nordische Modell“. Konkret bedeutet das: Jeder Kunde einer Prostituierten, der auf frischer Tat ertappt wird, bekommt zum Beispiel eine hohe Geldstrafe. Die Prostituierte selbst wird nicht bestraft.
In Schweden steht der Kauf von sexuellen Dienstleistungen bereits seit 25 Jahren unter Strafe, mittlerweile gibt es entsprechende Regelungen zum Beispiel auch in Frankreich.
In Deutschland ist der Sexkauf hingegen legal. Prostituierte oder Sexarbeitende sind hierzulande eine steuer- und sozialversicherungspflichtige Berufsgruppe. Wenn es nach einigen Politikerinnen und Aktivistinnen hierzulande geht, könnte sich das bald ändern. Auch das Europaparlament hat sich für ein Sexkauf-Verbot nach dem Nordischen Modell ausgesprochen.
Befürworterinnen und Befürworter des Modells sehen in Prostituierten oder Sexarbeitenden Opfer, die nicht selbstbestimmt arbeiten, sondern in der Regel von Menschenhändlern gezwungen werden, ihren Körper zu verkaufen. Ein Sexkaufverbot könne demnach helfen, den Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung zu bekämpfen.
Es gibt aber auch Gegenstimmen. Kritikerinnen und Kritiker befürchten vor allem, dass durch die Kriminalisierung des Sexkaufs auch der Zugang zu Hilfsangeboten für Sexarbeitende schwieriger wird – und dass sie immer mehr im großen Dunkelfeld der Prostitution verschwinden. .
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