Hagen. Der Hass auf Juden ist auch in Hagen in der gesellschaftlichen Mitte verortet. Ansichten und Einschätzung zum Antisemitismus.
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch, schrieb Bertolt Brecht 1941 in seinem Theaterstück „Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, eine Figur, die er im Wesentlichen an Adolf Hitler und Al Capone anlehnte. Der fruchtbare Schoß ist seit jenem April 1941 zum Sinnbild nicht versiegen wollenden Antisemitismus geworden, der sich in immer wieder neuen Ausprägungen seiner jeweiligen Moderne anpasst. Auch jetzt. Auch hier. Auch in Hagen.
Und mehr noch als das: Er scheint ein integraler Bestandteil einer virtuellen Welt geworden zu sein, in der fehlende Regulation und ein Online-Enthemmungseffekt wie ein Mund wirken, der immer wieder frische Luft ins Feuer pustet. Der jüngste politische Salon in Hagen hat das präzise, wissenschaftlich und historisch aufgearbeitet. Ein breiter Impuls, der an dieser Stelle Öffentlichkeit verdient.
Die Emotion des Hasses
Der Gewerkschafter, ehemalige Lehrer, Mitglied des WDR-Rundfunkrates und Mitglied der Bundesversammlung Andreas Meyer-Lauber hatte einen Rahmen gesetzt. Antisemitismus, das sei feindliche, Ressentiment geleitete Einstellung gegenüber Juden, die das Bild des ewigen Juden geradezu manifestiere. Er sei irrational, mystisch und stereotyp. „Der Kern des Antisemitismus liegt in der zentralen Emotion des Hasses, weswegen ich Judenhass für den besseren Begriff halte.“
Keineswegs, das werden die weiteren Verlautbarungen des Abends gleich zeigen, sei Antisemitismus etwas Vergangenes, das nur in Zügen oder als Relikt in alten Köpfen bestehe. Er sei aktueller und neuer denn je. Was neu in diesem Zusammenhang bedeutet, dazu gleich noch mehr.
Social Media verstärkt
Jedenfalls wirke Social Media hassverstärkend. Der Bereich sei ohne Regulation. „Im Netz fehlen die Autoritäten, was zu einem Online-Enthemmungseffekt führt. Es gibt eine extrem abgesenkte Eintrittsschwelle. Dazu hat Aufklärung im Netz keine Wirkung, wohingegen sie offline noch immer mächtig ist“, sagt Andreas Meyer-Lauber.
Sozial- und Kulturwissenschaftlerin Dr. Kristin Platt von der Ruhr-Universität Bochum schärft die Funktionsweise dieses Judenhasses, der präsenter denn je sei. „Die Globalisierung und gewisse Marktstrategien werden oft mit antisemitischen Figuren erklärt. Emotionen werden der Rationalität entgegengehalten. Das Bild des Juden wird mit Wurzellosigkeit, der Zersetzung der Gesellschaft und angeblich nicht zu durchschauenden internationalen Netzen gleichgesetzt.“
In der bürgerlichen Mitte verortet
Und dann sagt sie einen für diesen Abend sehr entscheidenden Satz: „Es ist nicht das Internet, das so polarisiert. Es ist der Antisemitismus.“ Dann vertieft sie. „Der Rassismus sagt uns wie der andere ist. Der Antisemitismus will uns sagen wie die Welt ist. Er ist in der bürgerlichen Mitte absolut verortet. Wir wissen, dass 18 Prozent der Mitglieder der bürgerlichen Mitte diese Einstellung haben.“
Eine Zuhörerin, die sich als Deutsch-Inderin beschreibt, wird später eine Bemerkung machen. Nämlich, dass sie es seltsam und verstörend finde, dass die Veranstaltung, die an diesem Abend im Stadttheater stattfindet, draußen von der Polizei geschützt werde.
Gedenken wie Maschinen
Ghandi Chahine ist da. Regisseur, Texter, Sänger, Musiker, Autor, Empowerment-Trainer. Er arbeitet viel und häufig mit Jugendlichen aus Migranten-Milieus, Flüchtlingen oder jenen, denen Partizipation extrem extrem erschwert wird. „Die Narrative wiederholen sich“, sagt er. Antisemitismus erlebe ich in der weißen Mehrheitsgesellschaft und in der Migrantengesellschaft.“
Eine interessante Feststellung, die die breite Abdeckung des Hasses zeigt. Ihm ist es wichtig, dass man „weg von der Ritualisierung kommt“, wenn es zum einen um die Judenverfolgung, aber auch um den Antisemitismus im Allgemeinen geht. „Den 9. November, den Tag der Reichspogromnacht, begehen wir doch wie Muttertag. Da gedenken wir wie Maschinen und am 10. November hat das Thema einfach keine Öffentlichkeit mehr.“
Schüler wird gebrandmarkt
Chahine erinnert sich, wie nach dem Mord- und Brandanschlag von Möln im Jahr 1992 auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser der Vermieter des Hauses, in der Chahines Familie lebte, Feuerlöscher auf allen Etagen anbringen ließ. „Was für ein Zeichen. Das werde ich niemals vergessen.“ Das habe ihm gezeigt, dass es keine Auseinandersetzung mit dem Thema gab, sondern sich jeder einfach nur der Nächste war.
Kerstin Cegledi-Renard ist Lehrerin am Fichte-Gymnasium. Sie berichtet aus der Praxis, aus dem Alltagsleben in der Schule. Sie erinnert sich, wie bekannt wurde, dass ein jüdischer Mitschüler an das städtische Gymnasium wechselte. Hinter verschlossener Tür wurde ihr mitgeteilt, dass ein Jude in ihre Klasse komme. „Das war im normalen Alltag auch überhaupt kein Problem in der Folge. Aber in Konflikten war es dann manchmal doch Thema.“ Der Schüler wurde dann als Juden geradezu gebrandmarkt.
Geschmacklose Bilder in Schüler-Chat
Auch außerschulische Fahrten zu Gedenkstätten und Orten, die den Antisemitismus thematisieren müssten aus ihrer Sicht verpflichtend werden. „Es sollte zu einer politischen Sache werden, dass das auch Schülern ermöglicht wird, deren Eltern sich das nicht leisten können.“ In einem Whatsapp-Klassenchat – und das zeige ganz einfach den Aufarbeitungsbedarf – seien mal Bilder geteilt worden, die Anne Frank vor einem Pizza-Hintergrund gezeigt hätten. Titel darüber: „Die Ofenfrische“. „Wir suchen immer wieder Gespräche, auch wenn derartige Chats eigentlich nicht zu unseren Pflichten gehören“, so die Lehrerin.
Hagay Feldheim, Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Hagen, hatte dazu zum einen erklärt, wie seine Gemeinde immer wieder versuche, Jugendliche dazu zu animieren, aktiv in der Gemeinde mitzuarbeiten. Gleichzeitig erklärte er, dass man den Schrecken gar nicht mehr so intensiv spüre, wenn man ihm immer wieder ausgesetzt sei. „Wir nehmen wahr, dass Bedrohungen gegen uns nur punktuell sind. Trotzdem werde es immer schwerer, zu seiner jüdischen Identität zu stehen.