Hagen. Sozialwissenschaftlerin Jolanda van der Noll über den Alltagsrassismus in Hagen. Warum er entsteht, immer wiederkehrt und was jeder tun kann.
Damit wären wir auch schon direkt bei der Lösung – und gleichzeitig beim größten Problem. Im Rahmen unserer Serie „Gemeinsam in Hagen“ macht Sozialwissenschaftlerin Dr. Jolanda van der Noll sehr schnell deutlich, wie man verkrustete Strukturen von Alltagsrassismus aufbricht. „Wir müssen auf Augenhöhe kommen“ sagt sie. Mit denen, die uns fremd erscheinen und die uns deshalb – aus wissenschaftlicher Sicht – Angst bereiten. Denn nichts anderes sind die Triebfedern von Rassismus und Abgrenzung im Alltag: Unkenntnis und Fremdheitsgefühle . Jolanda van der Noll erforscht das. Und sie beschreibt, wie Rassismus und Ausgrenzung jeden Tag geschehen. Immer und immer wieder. (Verpassen Sie keine Nachrichten mehr aus Hagen – Der WP-Newsletter)
Der Hinweis auf „die Ausländer“
Es klingt wie eine überhörbare Kleinigkeit, was die Niederländerin da von ihrer Wohnungssuche in Hagen berichtet. Vor knapp sieben Jahren suchte sie eine Wohnung in Wehringhausen. Da sagte ein Vermieter zu ihr: „Aber Sie wissen, dass hier viele Ausländer leben, oder?“ Gut, dachte sich van der Noll und sagte: „Kein Problem, ich bin doch selbst Ausländerin.“ Da fasste der Vermieter noch mal nach und schärfte: „Nicht solche Ausländer wie Sie.“
Vielleicht können sich viele Leser und Leserinnen denken, was der Vermieter meinte. Er meinte keine Akademikerinnen aus den Niederlanden, die ihm und seinem eigenen Leben recht ähnlich erscheinen. Weil sie gebildet sind und das, was viele Menschen gemeinhin als „vernünftig“ beschreiben würden.
Optische Ähnlichkeiten
Und übrigens auch, weil sie ihm optisch und vermutlich wertetechnisch ähnlich sind. Weiß, mitteleuropäisch, christlich sozialisiert, eben so, als könnte sie auch „von hier“ sein.
Die „anderen Ausländer und Ausländerinnen“ hingegen, die tummelten sich aus seiner Sicht eher im Wehringhausen. Nichts da Akademisierung, optische Differenzen, Sprachbarrieren, ein unverrückbarer Ruf. „Die waren gemeint“, sagt die Wissenschaftlerin.
Das Unbekannte wird bedrohlich
Warum die Szene hier so ausführlich beschrieben wird? Weil es, wissenschaftlich betrachtet, ein Verhalten ist, was so immer und immer wiederholt wird. „Das Unbekannte führt zu der Idee einer Bedrohung. Ist uns jemand fremd, wissen wir nichts über ihn und kommunizieren wir auch nicht mit ihm, dann fühlen wir uns manchmal in unseren Werten bedroht. Ohne, dass wir überhaupt je formuliert haben, was diese Werte eigentlich sind“, sagt van der Noll.
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„Dazu kommt, dass der Mensch das Bedürfnis hat, einer Gruppe zugehörig zu sein. Wir sprechen von sozialer Identität. So bilden sich Gruppen in der Gesellschaft, die sich – unter Umständen – sogar vehement voneinander abgrenzen. Wir neigen dazu, bei denen zu bleiben, über die wir etwas wissen.“
Bizarrerweise, so die Sozialwissenschaftlerin, entwickeln Menschen dann unter anderem drei Arten von Bedrohungsgefühlen. Die symbolische Bedrohung (Werte), die Sicherheitsbedrohung (Gefahr für Leib oder Leben) und die ökonomische Bedrohung (Beispiel: andere nehmen mir den Arbeitsplatz weg oder gefährden die Rente der Oma durch beanspruchte Sozialleistungen).
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Fakten bewegen nichts
„Sie können sagen, dass man ja mit Fakten gegen diese gefühlte Bedrohung arbeiten kann. Dann kommt aber dazu, dass uns oft ein differenzierter Blick fehlt. Und weil wir uns Gruppen zugehörig fühlen wollen, werden wir durch Familie oder Freunde schnell wieder in alte Denkmuster hineingezogen“, so van der Noll. Das führt zu mitunter merkwürdigen Szenen, wie aus Befragungen ausländischer Gruppen in Hagen durch Jolanda van der Noll hervorgeht. Beispielsweise derer der syrischen Personen. „Es gibt Leute, die nehmen ihre Tasche, die gerade noch zwischen ihren Beinen gestanden hat, auf den Schoß, wenn eine syrische Frau den Bus betritt. Das ist kein bewusst böses Handeln. Aber es ist Ausdruck der gefühlten Bedrohung und der Unkenntnis, die ich beschrieben habe.“
Abgrenzung durch Sprache
Van der Noll gibt ein Beispiel: „Wenn sie zu einem für sie augenscheinlichen Ausländer, der schon sein ganzes Leben in Hagen lebt – also ein Hagener ist – sagen: „Ah, du sprichst aber gut Deutsch“. Was wir da auf einer anderen Ebene transportieren, grenzt uns ab.“Van der Noll blickt auch kritisch auf Medien. „Es gibt Medien, die sehr gezielt eine bestimmte Art von Berichterstattung mit Blick auf bestimmte Bevölkerungsgruppen machen. Das hat enormen Einfluss und bringt mich wieder zu dem Punkt der Unkenntnis. Wenn wir Menschen nichts voneinander wissen und keinen Kontakt haben, dann holen wir unsere Informationen woanders her. Wenn diese Informationen dann auch noch dem bisherigen Weltbild entsprechen, löst es sich nicht auf, sondern verhärtet sich.“
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Hinzu käme die Frage, ob es überhaupt nötig sei, in negativen Berichterstattungen wie Gewalt, Vergewaltigungen, Raub, Diebstahl und anderem, überhaupt über die Nationalität zu schrieben oder zu berichten, wenn das nicht unmittelbar den Kontext der Tat bestimmt. „Wenn es nämlich nichts damit zu tun hat, dann befördert es nur Hass und Abgrenzung gegenüber der Nationalität, die da gerade genannt wird“, sagt Jolanda van der Noll.
Begegnung auf Augenhöhe
„Wir müssen zunächst – und das kann jeder Einzelne ganz konkret tun – bereit sein, anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Wir brauchen den echten Kontakt ohne Abhängigkeitsverhältnis.“ Wenn zugewanderte Syrer also mit Einheimischen in Kontakt kommen, dann darf nicht die Frage im Raum stehen, ob der eine unter dem anderen steht, ob der eine etwas vom anderen will oder ob jemand ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen muss, um seinen Integrationswillen zu beweisen zum Beispiel.
Formate ohne Vorbehalte
„Wir brauchen dafür Formate, die zu den Bedürfnissen der Menschen passen. Sport ist so ein Format, das diese Ebenen sehr gut auflösen kann. Oder ein inhaltliches Angebot des Stadttheaters, dass beide Kulturkreise anspricht.“ Runden, in denen Einheimische ausschließlich als Helfende, Unterstützende oder in einer Rolle desjenigen, der behilflich sein will, sich in die Gesellschaft zu integrieren, auftreten, zeugen zwar von lobenswerter Hilfsbereitschaft, verhindern aber manchmal ungewollt die Begegnung auf Augenhöhe.
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Jene Begegnung, die zum Beispiel einander unbekannte Deutsche erleben, wenn sie bei einem Theaterbesuch ins Gespräch kommen. Die unvoreingenommene Begegnung. Auf Augenhöhe und ohne Vorbehalte.